1914-1920 Kein Sieg in Sicht

In diesem Kapitel schildert der Autor einige Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen in der Zeit ab 1914 bis etwa 1914/1920. Bald schon stellte sich über den Kriegsverlauf (der Krieg sollte innerhalb 6 bis 8 Wochen gewonnen sein), dramatische Ernüchterung ein. Der Autor fällt beim Aufsichtsrat der Zeitung in Ungnade. Seine Einflußnahme im Sinne der „Alldeutschen“ und die nun einsetzende Kritik an der Politik Bethmanns und letzten Endes, der kaiserlichen Kriegführung (die sei zu lasch, nicht geeignet die Engländer zu besiegen usw.) führten zunächst zur Degradierung als Chefredakteur und später trennten sich die Wege. Interessant ist die eben doch sehr „deutsch/imperiale“ Sicht auf die Gründe für den Kriegsbeginn. Natürlich – auch damals, waren die Anderen Schuld. Die „Einkreisungspolitik“ gegen Deutschland. Allerdings, das konnte man schon damals wissen. Wilhelm II war ein bekennender Militarist, verantwortlich für massive Aufrüstung und bekannt für unberechenbares angeberisches Gehabe (heute würde man sagen – befallen vom Trumpismus). Der Schliefenplan (für den Angriffskrieg) war wohl einer der am längsten und detailliertesten Pläne die es je gegeben hat, aber eben auch einer der bereits im Ansatz grandios scheiterte wie kaum ein anderer. (frei nach W. Michael Blumenthal, Die unsichtbare Mauer, 2.Auflage 2001, 978-3-423-307888-9, S.349). Die Anmerkungen verantwortet der Herausgeber.

 

Im Original beginnt der Abschnitt mit der Überschrift (BD-II-273-293)

Die Denkschrift Bacmeister

Der westfälische Verleger und preußische Landtagsabgeordnete W. Bacmeister, ebenfalls Mitglied unseres Ausschusses, ließ uns im Sommer 1916 eine überaus instruktive Denkschrift zugehen, in der ein reiches, ja nahezu erdrückendes Material gegen die Bethmannsche Politik zusammengetragen war, so dass ich es für nützlich halte, sie hier wiederzugeben auch deshalb, weil sie die beste Begründung und Rechtfertigung der Bestrebungen des Ausschusses zur Niederkämpfung Englands[1] darstellt:

„Die „Bayerische Staatszeitung“ schrieb dieser Tage von Persönlichkeiten deren Patriotismus nicht in Zweifel gezogen werden solle, die sich aber durch vermeintliches Besserwissen und eingebildetes Besserkönnen berufen fühlten, gegen unsere führenden  Männer Mißtrauen auszustreuen und damit Unruhe und Unfrieden im Innern des Reiches zu stiften. Dieser Satz des bayerischen Regierungsorgans zeigt, dass in seiner Redaktion und bei seinen Hintermännern die Lage in Deutschland völlig verkannt wird. Die Tätigkeit der Männer, die das Blatt treffen will, kann nicht erst Unruhe stiften, da solche Unruhe in höchstem Maße bereits vorhanden ist. Es handelt sich nicht etwa um Neuerungssucht, um Besserwissen, um eingebildetes Besserkönnen. Es handelt sich vielmehr um eine tiefgreifende vaterländische Sorge allerweitester Kreise, vor allen Dingen aber solcher Kreise, die Gelegenheit haben, tiefer in die politischen Vorgänge der Zeit hineinzublicken. Die Ursachen dieser vaterländischen Sorgen gehen auf die Zeit vor dem Kriege zurück. Die Sorge ist verstärkt worden durch gewisse Vorgänge, die sich bei Ausbruch des Krieges ereigneten, und sie haben sich zu tiefsten Befürchtungen für das Schicksal des deutschen Vaterlandes ausgewachsen durch die Erfahrungen, die im Laufe des Krieges gemacht worden sind. Der Verfasser dieser Zeilen hat Gelegenheit gehabt, in zahlreichen Städten Deutschlands Vorträge zu halten und im Anschluss daran sich mit leitenden Männern aus fast allen Landesteilen zu unterhalten. Er hat dabei feststellen müssen, dass die Sorge um die Zukunft das ganze deutsche Land durchzieht, wenn auch vorläufig noch nicht überall die breiten Massen, so doch allerwärts diejenigen, gebildeten Kreise, die zwischen den Zeilen der Zeitung und aus den tatsächlichen Ereignissen selbst zu lesen verstehen. Es muss hier offen ausgesprochen werden, dass die zuerst nur vereinzelt vorhanden gewesenen Befürchtungen, die politische Leitung des Reiches werde uns den Sieg in diesem Kriege überhaupt kosten, zusehends an Boden gewonnen haben und heute von vielen ernsten Männern geteilt werden.

Auf die Vorgänge vor dem Kriege soll hier nicht eingegangen werden, soweit das nicht notwendig ist, um Zusammenhänge mit Ereignissen während des Krieges herzustellen. Von den Ereignissen bei Beginn des Krieges, die allmählich in immer weiteren Kreisen bekannt geworden sind und deren Bedeutung immer mehr erfasst wird, sind es bekanntlich die folgenden, aus denen Rückschlüsse auf die Führung unserer politischen Geschäfte gezogen werden können. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Reichsregierung durch den Eintritt Englands in den Krieg in hohem Maße überrascht gewesen ist. Bewiesen wird das nicht nur dadurch, dass sie noch nach dem Attentat von Sarajewo 1,5 Millionen Doppelzentner Getreide in das Ausland gelangen ließ, sondern auch durch die Schilderung, die der britische Botschafter in Berlin, Herr Goschen, über seine Unterredungen mit Herrn v. Jagow[2] und Herrn Bethmann Hollweg gegeben hat. Das Wesentliche, nämlich das Moment der Überraschung, vor der die Reichsregierung stand, ist bisher durch keinerlei Dementi entkräftet worden. Selbst ein der Reichsregierung so nahestehendes Organ wie die Kölnische Zeitung schrieb Mitte Juli 1916:

„Dagegen wird sich u. E. der Kanzler, wenn die Zeit gekommen ist, darüber zu erklären haben, wie es geschehen konnte, dass unsere Regierung offenbar nicht einmal die Möglichkeit eines Krieges mit England in’s Auge gefasst und infolgedessen in auffallendem Gegensatz zu der vortrefflichen Vorbereitung unserer militärischen und finanziellen Rüstung eine entsprechende vorausschauende Organisation der Volksernährung im Hungerkriege verabsäumt haben. Wofern derartige sachliche Vorwürfe erhoben und sachlich begründet werden, wird der Kanzler sich der Pflicht nicht entziehen können und wollen, Rede und Antwort zu stehen.“ Die Reichsregierung kann ja wohl auch kaum bestreiten, dass sie durch den Eintritt Englands in den Krieg überrascht worden ist. Denn wenn sie es bestritte, würde ihr Verhalten in Bezug auf wirtschaftliche Vorbereitung gegenüber einer britischen Absperrung völlig unverständlich erscheinen und zu noch viel schlimmeren Bedenken Anlass geben, als sie jetzt schon allgemein da bestehen, wo man von der Überraschung der Reichsregierung Kenntnis hat.

Dass die Reichsregierung überrascht worden ist, erklärt sich für die Öffentlichkeit aus den deutsch-britischen Verhandlungen über eine Reihe afrikanischer Kolonien[3], die vor dem Kriege schwebten und deren Abschluss nach Ansicht des Reichskanzlers nahe bevorstand. Damals hoffte die Reichsregierung, zu einer Verständigung mit England auf der Grundlage zu kommen, dass England uns ein großes afrikanisches Kolonialreich gewährte, wogegen Deutschland seine Ansprüche auf Seegeltung herabzusetzen sich bereit erklären wollte. In den Kreisen, die von diesen Verhandlungen einige Kenntnis haben, hat schon die Richtung dieser Politik aller schwerste Befürchtungen ausgelöst, weil es eine Illusionspolitik ist, eine Verständigung mit England auf der Grundlage eigener eingeschränkter Seegeltung zu betreiben.

Die Hoffnung des Reichskanzlers, England würde mit Rücksicht auf die deutsch-britischen Verhandlungen sich einem europäischen Krieges fernhalten, erscheint breitesten Kreisen um so unverständlicher, als die Reichsregierung während des Krieges, um ihre Unschuld zu beweisen, von den Verhandlungen mit Sir Edward Grey im Jahre 1912 Kenntnis gab.

Diese Verhandlungen zeigten deutlich, dass England unter keinen Umständen Verpflichtungen eingehen wollte, die ihm bei einem Kampfe Deutschlands gegen europäische Großmächte die Wahrung der Neutralität auferlegten. Die Reichsregierung selbst hat durch die Form der Veröffentlichung dieser Verhandlungen deutlich gezeigt, dass sie das Verhalten Greys so ausgelegt zu sehen wünschte. Seit dem Herbst 1912 hat sich mit Ausnahme der Verhandlungen über ein Kolonialreich zwischen England und Deutschland nicht ereignet, woraus eine Realpolitik die berechtigte  Hoffnung hätte schöpfen können, England werde in einem europäischen Konflikt neutral bleiben. Im Gegenteil, es sind der Reichsregierung noch im März und Juni 1914 geheime diplomatische Dokumente zugegangen, von denen z. B. eines mit den Worten schließt:

„Von besonderer Seite erhalte ich Kenntnis von einem Notenwechsel, der im Herbst vergangenen Jahres zwischen Sir Edward Grey und dem Botschafter Cambon[4] stattgefunden hat und den ich mit der Bitte um streng vertrauliche Behandlung hier vorzulegen die Ehre habe. In dem Notenwechsel vereinbaren die englische und die französische Regierung für den Fall eines drohenden Angriffs von Seiten einer dritten Macht, sofort in einen Meinungsaustausch darüber einzutreten, ob gemeinsames Handeln zur Abwehrung des Angriffs geboten sei, und gegebenenfalls, ob und inwieweit die bestehenden militärischen Vereinbarungen zur Anwendung zu bringen sein würden.

Die Fassung der Vereinbarungen trägt mit feiner Berechnung der englischen Mentalität Rechnung. England übernimmt formell keinerlei Verpflichtungen zu militärischer Hilfeleistung. Es behält nach dem Wortlaute auch die Hand frei, stets nur seinen Interessen entsprechend handeln zu können. Dass sich aber durch die Vereinbarungen in Verbindung mit den getroffenen militärischen Abmachungen England de facto dem französischen Revanchegedanken bereits rettungslos verschrieben hat, bedarf kaum einer besonderen Ausführung.

Die englische Regierung spielt ein gefährliches Spiel. Sie hat durch ihre Politik in der bosnischen und in der marokkanischen Frage Krisen[5] hervorgerufen, die Europa zweimal an den Rand eines Krieges brachten. Die Ermutigung, die sie direkt wie indirekt andauernd dem französischen Chauvinismus zuteil werden lässt, kann eines Tages zu einer Katastrophe führen, bei der englische wie französischen Soldaten auf französischen Schlachtfeldern englische Einkreisungspolitik mit ihrem Blute bezahlen werden. Die Saat, die König Eduard gesät hat, geht auf.“[6]

Hat die Reichsregierung trotzdem den Zusammenschluss mit England nicht vorausgesehen, so hat sie einen Mangel an politischer Berechnungsfähigkeit und an Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, offenbart, der nicht nur die schlechte wirtschaftliche Vorbereitung des Krieges gegen England nach sich gezogen, sondern – was schlimmer ist – das Vertrauen zu der Fähigkeit unserer politischen Leitung in weitesten Kreisen zerstört hat.

Die Veröffentlichung der in Belgien gefundenen Dokumente, durch die die Reichsregierung ihre Unschuld am Ausbruch des Krieges beweist[7], hat dem deutschen Volke weniger diese ihm selbstverständlich erscheinende Tatsache bewiesen als den anderen Umstand, dass die belgischen Diplomaten im Gegensatz zu den deutschen die Entwicklung der politischen Lage Europas seit zehn Jahren völlig zutreffend beurteilt haben, dass sie jederzeit vor einer politischen Auffassung der deutsch-britischen Verhandlungsbestrebungen warnten und seit Jahren kaum eine Hoffnung auf Erhaltung des europäischen Friedens gelassen haben. Auch hat die belgische Diplomatie stets die treibende Kraft Englands in der gegen Deutschland gerichteten Einkreisungspolitik klar gekennzeichnet. Es hat dem politischen Ansehen der Reichsregierung in weiten gebildeten Kreisen des deutschen Volkes nur geschadet, dass sie meinte, jene belgischen Dokumente während des Krieges veröffentlichen zu sollen, um ihre Unschuld zu beweisen, ohne dass sie gleichzeitig bedachte, wie die klare Voraussicht der belgischen Diplomaten für die Entwicklung der europäischen Lage die Tatsache nur noch unverständlicher macht, dass unsere Diplomaten und der Reichskanzler am 4. August durch Englands Verhalten so maßlos überrascht und zu einem völligen Zusammenbruch geführt worden sind.

Die Bedenken über die politische Fähigkeit des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes, die so hervorgerufen worden sind, wurden ungemein vertieft durch das Wort vom Unrecht, das der deutsche Reichskanzler am 4. August 1914 im deutschen Reichstag aussprach. Dieses Wort vom Unrecht ist völlig unverständlich für den, der weiß, wie oft und treffend der Durchmarsch durch Belgien vor dem Krieg von französischer, englischer und belgischer Seite gerechtfertigt worden ist. Es ist unverständlich mit Rücksicht auf die von Belgien jahrelang gegen Deutschland gerichtete Eisenbahn- und Festungspolitik. Selbst wenn man annehmen muss, dass die Reichsregierung von ihrer diplomatischen Vertretung in Brüssel keinerlei Material über die englisch-belgischen und französisch- belgischen Vereinbarungen, die schon im Jahre 1906 begannen, erhalten hat, bleibt das Wort des Kanzlers unverständlich, da, wie gesagt, Staatsmänner und Militärs Englands, Frankreichs und Belgiens schon lange vor Ausbruch des Krieges die Möglichkeit eines Durchmarsches erwogen und ihn immer wieder als unter gewissen Umständen gerechtfertigt bezeichnet haben. Der belgische Militärschriftsteller Navez äußerte sich vor dem Kriege so:

„Wir sind überzeugt, dass die unsere Unabhängigkeit verbürgenden Staaten Vollkommen die Absicht haben, ihre Verpflichtungen zu halten. Aber diese Absicht bindet sie nicht sehr. Ihre Lenker erachten nicht mit Unrecht, dass ihre vornehmsten Pflichten sich auf dasjenige Volk, das sein Loos in ihre Hände gelegt hat, beziehen. Für einen Staat aber übertrifft das Gebot, seine Existenz zu wahren, nicht elendlich eine Beute und Opfer eines anderen Staates zu werden, alles andere. Salus populi suprema lex esto.[8]

Schon am 16. Februar 1855 hat der belgische Minister Lebeau in der belgischen Kammer eine treffliche Rede für unser Recht im August 1914 gehalten, indem er ausführte:

„Die Geschichte meldet, was aus solchen Neutralitäten wird, die man als hinreichend verbürgt betrachtet durch einen Vertrag, also durch das, was man gelegentlich als ein Stück Papier bezeichnet. Diese Neutralitäten, die einstmals blindlings auf dem geschriebenen Recht beruhten, haben sicherlich dank der Macht der öffentlichen Meinung eine viel größere Macht als ehedem. Indessen hüten wir uns, zu glauben, dass es nicht Pflichten gebe, Pflichten, die auf dieser Neutralität ruhen, in ihr wurzeln. Es ist dazu notwendig, dass die Unverletzlichkeit unseres Gebietes gesichert werden könne durch uns selbst, zum Mindesten in einem gewissen Maße. Und wenn wir jemals ein großes Interesse vernachlässigen, eine so große Pflicht vergessen könnten, so würden wir uns der Möglichkeit aussetzen, dass andere uns erklären, was der erste Konsul Frankreichs der Republik Venedig erklärte: Wenn ihr zu verhindern gewusst hättet, dass der Feind so leicht bei Euch Eingang fände und dass man im Begriff war, dort eine meiner Armee feindliche strategische Stellung einzunehmen, so würde ich Euer Gebiet nicht betreten haben.“

Sogar „France militaire“, das Organ des französischen Generalstabes, erklärte am 14. Januar 1914:

„Es kann sein, dass aus einem strategischen Interesse, welches unbestreitbar ist, ein Teil der deutschen Armee die französische Nordgrenze zu gewinnen sucht, indem er Luxemburg durchquert, wie es ebenso sein kann, dass aus einem ganz ebenso starken strategischen Interesse eine französische Armee auf dem Gebiete Belgiens zu operieren sucht.“

Angesichts solcher Äußerungen der militärischen Kreise Frankreichs, die nie genügend von Belgien abgeschüttelt wurden, ja, deren Absicht man auf belgischer Seite mit Festungs- und Eisenbahnpolitik entgegenkam, wäre es ein Wahnsinn des deutschen Generalstabes gewesen, den französischen Plänen nicht rechtzeitig zu begegnen. Man denke nur an die Bedrohung des rheinisch-westfälischen Industriebezirkes, der kaum hundert Kilometer von der belgischen Grenze entfernt liegt.

Nach Ollivier betrachtete Napoleon III. Belgien „als eine künstliche Schöpfung, die gegen Frankreichs Größe aufgerichtet sei und kein Recht auf irgendwelche Unverletzlichkeit habe.“

Und endlich England. Schon Palmerston betrachtete das belgische Problem so, dass wir im August 1914 uns hätten auf ihn berufen können.

„Es ist wahr“, so sagte er, „dass Verträge die Neutralität Belgiens festgestellt haben. Aber ich bin nicht geneigt, derartigen Verpflichtungen große Bedeutung beizumessen. Die Weltgeschichte zeigt, dass, wenn ein Streit sich erhebt und eine kriegführende Nation es für nützlich hält, ihre Armee durch ein neutrales Gebiet durchmarschieren zu lassen, Neutralitätserklärungen nicht allzu ängstlich beachtet zu werden pflegen.“

Dazu Gladstone am 10. August 1870:

„Ich vermag nicht der Lehre beizustimmen, dass die einfache Tatsache des Vorliegens einer Garantie jeden Teilnehmer an ihr bindet völlig ohne Rücksicht auf die besondere Lage, worin er sich befinden mag in dem Zeitpunkt, wo der Anlass, der Garantie gemäß zu handeln, eintritt. Die großen Autoritäten auf dem Gebiete der auswärtigen Politik (er bezog sich hier auf Palmerston[9] und Aberdeen[10]) haben meines Wissens niemals diese starre und, wenn ich so sagen darf, diese unpraktische Ansicht von der Garantie gehabt.“

Waren diese Worte Gladstones[11] nicht wie besonders geprägt für die Lage, in der Deutschland sich 1914 befand? Noch im Jahre 1889 bestand keine andere Auffassung der Dinge in England. In dem Organ der damaligen Regierung, dem „Standard“, erschien am 4. Februar 1887 die Zuschrift eines ungenannten Diplomaten und zugleich ein Leitartikel, die beide einen scharfen Unterschied machten „zwischen dem nur zeitweiligen Gebrauch des Wegerechtes und der dauernden unrechtmäßigen Besitznahme eines Gebietes. „In dem Leitartikel, der die Ansichten der Regierung widerspiegelte, hieß es:

„wenn der eine oder der andere zu England sagte: „Alle militärischen Zugänge zu Frankreich und Deutschland sind verschlossen und nur der neutrale Zugang steht uns offen. Dieser Zustand ist nicht nur schädlich, sondern verhängnisvoll für unsern militärischen Erfolg. Er hat sich eingestellt, seitdem der Vertrag die Unverletzlichkeit der einzigen Wege verbürgt, deren wir uns jetzt bedienen können. Wir wollen die Unabhängigkeit Belgiens respektieren, und wir wollen die feierlichsten und bindensten Zusicherungen geben, dass nach dem Ende des Krieges Belgien frei und unabhängig sein soll wie zuvor“ – wenn Deutschland (und diese Voraussetzung erstreckte sich natürlich auch auf Frankreich) sich dieser Sprache bediente, dann besteht kein Zweifel, welche Maßregel für England klug und einwandfrei und was die Antwort der englischen Regierung sein würde. England wünscht nicht wahre Verbindlichkeiten abzuschütteln. Aber es wäre Wahnwitz für uns, unnötig Verbindlichkeiten auf uns zu nehmen, wenn ein solches Vorgehen uns in einen schrecklichen Krieg verwickeln würde.“

Die Dokumente, die sich hätten heranziehen lassen, um unseren Durchmarsch zu rechtfertigen, sind so zahlreich, dass sie gar nicht alle wiedergegeben werden können. Aber Folgendes sei noch gesagt. In der Januarnummer des „März“ vom Jahre 1914 machte der Belgier Vandervelde[12] folgende ungemein wichtige Mitteilung:

„Nach der Abstimmung über die deutsche Wehrvorlage vom 14. Juni 1912 legten verschiedene Mächte der belgischen Regierung nahe, dass man sie nicht mehr für fähig halte, im Notfalle eine Verletzung der belgischen Neutralität zu hindern. Man gab ihr zu verstehen, dass infolge unserer Machtlosigkeit die Deutschen, die an der Grenze Belgiens wichtige Vorkehrungen getroffen haben, im Handumdrehen den größten Teil des Landes besetzen könnten, und man erklärte ihr, dass unter diesen Umständen aus Furcht vor den Folgen einer solchen Besetzung anderer Mächte, etwa Frankreich oder England, es im Kriegsfall für angezeigt halten könnten, Deutschland zuvorzukommen.“ Auf diese Argumente sich stützend setzte es de Broqueville[13] (der belgische Ministerpräsident) trotz der antimilitärischen Tendenzen der Mehrheit durch, dass die Kriegsstärke des Heeres etwa verdoppelt und das Heeresbudget um wenigstens 30 Millionen jährlich erhöht wurde.“

Auf Veranlassung des deutschen Reichskanzlers haben die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ und Wolff[14] diese Äußerung Vanderveldes sofort verbreitet, als sie nach Ausbruch des Krieges von dem Kölner Tageblatt wieder ausgegraben wurde und ein neutrales, damals englandfreundliches Blatt, die schwedische Zeitung „Aftonbladet“, hat von diesem Aktenstück gesagt, dass es ein auffallendes Licht werfe auf die Verhandlungen zwischen Belgiens Regierung und den Westmächten vor Ausbruch des Weltkrieges und ganz deutlich zeige, dass die Verletzung der belgischen Neutralität von Frankreichs und Englands Seite lange vorher eine beschlossene und abgemachte Sache war. Die Bedeutung dieser Sache haben also auch die deutschen amtlichen Stellen anerkannt. Sie war ein weiterer trefflicher Grund für die Berechtigung unseres Durchmarsches. Warum aber wurde sie dem Kanzler nicht vom Auswärtigen Amt vorgelegt, ehe das Wort vom Unrecht fiel? Der Durchmarsch durch Belgien entspricht einem längst entworfenen strategischen Plan, der natürlich der Reichsregierung seit Langem bekannt war. Dem gemäß war es ihre heilige Pflicht, alles Material zu sammeln, um diesen Durchmarsch sofort auch diplomatisch rechtfertigen zu können. Solches Material war in Hülle und Fülle vorhanden. Welches Licht nun muss es auf die Arbeitsmethode des Auswärtigen Amtes , aber auch auf die Fähigkeit des Kanzlers, das politisch Wesentliche zu erkennen, werfen, dass nicht einmal der Versuch gemacht worden ist, unsern Durchmarsch durch Belgien zu rechtfertigen, dass statt dessen von einem Bruch des Völkerrechtes und vom Unrecht gesprochen wurde? Diese Worte, von dem leitenden Beamten des Reiches gesprochen, in Verbindung mit dem ebenfalls vom Reichskanzler (gegenüber Herrn Goschen) gesprochenen Worte vom „Fetzen Papier“ haben ungemein viel Unheil im gesamten neutralen Ausland angerichtet und eine Beurteilung der deutschen Politik zur Folge gehabt, die sie wahrscheinlich nicht verdient.

Das dritte Ereignis aus der Zeit des Kriegsbeginns, dessen Bekanntwerden schwere Besorgnisse hervorgerufen hat, ist die Absendung einer Depesche des Herrn v. Jagow an den Fürsten Lichnowsky[15] am 4. August 1914, die das englische Blaubuch Nr.157[16] folgendermaßen veröffentlich:

„Haben Sie die Güte, jedes Misstrauen, welches die großbritannische Regierung in Bezug auf unsere Absichten haben könnte, zu zerstreuen, indem Sie die ganz formelle Zusicherung wiederholen, dass sogar im Falle eines Waffenganges mit Belgien Deutschland sich unter gar keinem Vorwand belgisches Gebiet aneignen will. Die Aufrichtigkeit dieser Erklärung ist durch die Tatsache bewiesen, dass wir Holland unser feierliches Versprechen gaben, seine Neutralität aufs Strengste zu achten. Es ist augenscheinlich, dass wir uns nicht belgisches Gebiet aneignen könnten, ohne uns zugleich auf Kosten der Niederlande zu vergrößern. Stellen Sie Sir Edward Grey eindringlichst vor, dass wir uns einem von Frankreich unternommenen und von diesem durch belgisches Gebiet gegen uns gerichteten Angriff, wie er nach unwiderlegbaren Beweisen zu schließen beabsichtigt war, nicht aussetzen können. Da ein solcher Angriff Frankreichs für Deutschland eine Frage seines nationalen Weiterbestehens bedeutet, muss das letztere die Neutralität Belgiens außer Acht lassen.“

Diese Depesche wurde abgesandt, als schon deutsche Truppen auf belgischen Gebieten standen. In Holland musste man damit rechnen, dass dieser Krieg über Belgiens Schicksal irgendwie entscheide. Wenn nun die Reichsregierung selbst erklärte, dass sie sich kein belgisches Gebiet aneignen könnte, ohne sich auf Kosten der Niederlande zu vergrößern, so mussten dadurch in Holland schwerste Befürchtungen für die Zukunft entstehen, da mit der Möglichkeit gerechnet werden musste, dass Deutschland sich nach einem siegreichen Kriege doch belgisches Gebiet aneignen würde. Die Bedrohung Hollands durch Deutschland war für die Holländer somit ein durch die deutsche Reichsregierung selbst deutlich gekennzeichnetes Moment der Lage. Exz. Zimmermann vom Auswärtigen Amt hat in einer persönlichen Unterredung nicht gewagt, die Absendung dieser Depesche zu verteidigen. Es kommt hinzu, dass diese Depesche auch für den Fall eines blutigen Zusammenstoßes mit Belgien uns jede Möglichkeit nahm, die Integrität Belgiens im Friedensschluss anzutasten, falls England neutral geblieben wäre. Da wir auch Frankreichs Integrität angeboten hatten, opferten wir also alle Zukunftschancen auf Verbesserung unserer westlichen Stellung durch dieses Angebot, und schließlich wieder zeigt diese Depesche noch ganz besonders deutlich, dass der Reichskanzler das Wort vom Unrecht nicht hätte zu sprechen brauchen. Denn es muss nach dem Inhalt der Depesche „unwiderlegbare Beweise“ vorliegen, dass Frankreich den Durchmarsch durch Belgien plante, dass somit Deutschland das Recht hatte, Frankreich zuvorzukommen. Wo diese Depesche in politisch denkenden Kreisen bekannt wird, erregt sie Kopfschütteln und vermehrt die Befürchtungen über die politische Fähigkeit der Reichsleitung. Es ist klar, dass solche Dokumente geradezu wie geschaffen sind, das Vertrauen in die politische Leitung zu zerstören.

Schlimmer noch als diese Einzelereignisse haben die Methoden gewirkt, mit denen die Reichsleitung auf dem Wege über die politische Zensur die Stimmung im Lande zu beeinflussen gesucht hat. Diese Methode haben schon kurz nach Beginn des Krieges Formen angenommen, von denen die breite Öffentlichkeit keinerlei Kenntnis hatte, und die Tendenz hat sich allmählich so entwickelt, dass die Befürchtungen über die Anschauung und Absichten der Reichsregierung notwendigerweise immer stärker werden mussten. Der Reichskanzler versprach der Presse bei Ausbruch des Krieges, dass eine politische Zensur nicht ausgeübt werden solle, Am 26. Oktober 1914 erschien in der täglichen Rundschau ein kurzer Artikel „Unsere Diplomaten und der Krieg“, der die Auslassung der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. über die amtliche Veröffentlichung zur Vorgeschichte des Krieges wiedergab und daran die Bemerkung knüpfte, dass sie die durch den Kanzler vor aller Welt gemachte Feststellung eines angeblichen Neutralisierungsbruches gegen Belgien für unnötig und schädlich hielte. Nach einer mir vorliegenden Denkschrift der Täglichen Rundschau wurde deren Herausgeber im Auswärtigen Amt von berufener Seite mitgeteilt, dass der Kanzler wegen dieses Artikels mehrfach das Verbot der Täglichen Rundschau verlangt habe.

Es wurden dem Herausgeber im weiteren Verlauf der Verhandlungen sogar gewisse Versprechungen für die weitere politische Haltung des Blattes abverlangt, und als er sie zu geben sich weigerte, setzte eine Zensurverfolgung des Blattes ein, die jeder Beschreibung spottet, ja die so weit ging, dass der Täglichen Rundschau der Abdruck von Wolff-Depeschen untersagt wurde. Da die Reichsleitung befürchten musste, dass in politischen Fragen die Tägliche Rundschau anderer Meinung sei als sie, wurde ihr verboten, irgendetwas über Polen zu veröffentlichen. Am 14. September 1914 erschien in der „Post“ ein Aufruf des Ortskommandanten von Lodz, der Täglichen Rundschau wurde der Nachdruck am gleichen Tage verboten. Am 15. September erschien der Aufruf in der Voss. Zeitung, am 16. September erschien er im Vorwärts, am 16. wurde der Nachdruck wiederum der Täglichen Rundschau verboten.

Am 17. September erschien er in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, am 18. September wurde er auf Anfrage der Täglichen Rundschau wiederum verboten. Dies ist ein Beispiel für die unerhörten Methoden der politischen Zensur.[17]

Es kann hinzu, dass die Reichsleitung immer wieder von den Zeitungen für ihre Ansichten reklamiert wurde, die auf dem Boden einer Versöhnungspolitik gegenüber England stehen, und dass die Reichsleitung diese Zeitungen, an deren Spitze Frankfurter Zeitung und Berliner Tageblatt stehen, niemals von sich abschüttelte. Ferner kam hinzu, dass Männer wie Liszt[18] und Delbrück[19] in den ersten Monaten des Krieges ohne Bedenken und ohne Behinderung durch die Zensur Artikel veröffentlichen konnten, in denen z. B. folgende Sätze standen:

(Liszt) „Das Deutsche Reich wird auch nach einem glücklich verlaufenen Krieg die vierte Großmacht, aber keine Weltmacht im strengen Sinn des Wortes sein. Wir werden gut tun, uns diese Tatsache immer und immer wieder vor Augen zu halten. Einzeln betrachtet, sind alle Staaten des europäischen Festlandes (auch das siegreiche Deutschland) nur Staaten zweiten und dritten Ranges gegenüber England, Russland und Amerika.“

(Delbrück) „Ein militärisch unausgefochtener Krieg ist also nach englischer Auffassung für Deutschland bereits ein großer Sieg, und wir haben allen Grund, diese Auffassung von Herzen für richtig zu erklären.“

Diese selben Männer standen mit vielen der Reichsregierung nahestehenden Persönlichkeiten wie Geheimrat Harnack, Unterstaatssekretär Lusensky, Graf Monts[20], Dr. Paul Rohrbach, A. Stein von der Frankfurter Zeitung, Frhr. v. Stumm, im Vordergrund der Eingabe gegen jede Annektion, die am 9. Juli 1915 an den Reichskanzler gerichtet wurde und die den Satz enthielt:

„Der höchste Siegespreis wird immer in der stolz errungenen Gewissheit bestehen, dass Deutschland auch eine Welt von Feinden nicht zu fürchten braucht, und in dem beispiellosen Kraftbewusstsein, das unser Volk den anderen Völkern der Erde und den kommenden Generationen gegeben hat.“

Angesichts der Persönlichkeiten, die diese Eingabe unterzeichnet hatten, musste die Befürchtung auftauchen, dass sie nicht ohne Einverständnis mit der Reichsregierung zustande gekommen war. Das darf man neuerdings umso mehr annehmen, als nicht weniger als zehn der Unterzeichner zu den Rednern des Nationalausschusses gehörten. Es ist aber insbesondere noch bemerkenswert, dass auch eine ganze Reihe von Männern die Eingabe unterzeichnet haben, die entweder wie Professor Quidde in München Mitglieder des pazifistischen Bundes „Neues Vaterland[21]“ sind oder nach Angabe dieses Bundes Beziehungen zu diesem unterhalten. Dieser Bund ist von der Berliner Militärbehörde unter Hochverratsanklage gestellt worden, behauptet aber trotzdem, dass er dieselben Meinungen vertrete wie der Reichskanzler. In einer seiner von der Militärbehörde beschlagnahmten Schriften steht denn auch der folgende merkwürdige, an eine gewisse Reichskanzlerrede erinnernde Satz:

„Der starke darf der Klügere sein und zuerst der Stimme der Vernunft Gehör schenken. Er mag keinen Frieden anbieten können, da man es ihm, solange die Unvernunft auf der Gegenseite herrscht, höhnend als Eingeständnis seiner Schwäche auslegen würde. Aber er kann als erster erkennen lassen, dass Friedensvorschläge, die sein Übergewicht anerkennen, ihn zu Verhandlungen bereitfinden würden, und er kann als erster offen auf die Forderungen verzichten, die für absehbare Zeit eine Beendigung des Krieges unmöglich machen müssten.“

Unter den führenden Männern des neuen Nationalausschusses, der im Einvernehmen mit dem Reichskanzler zu arbeiten behauptet, steht auch Geh. Kommerzienrat Arnhold-Dresden, der zugleich führender Mann in dem unter Hochverratsanklage stehenden Bund „Neues Vaterland“ ist und der kürzlich einen Aufruf zur Gründung des Bundes Mitteleuropa unterzeichnete, in dem die Schaffung der „Freiheit der Meere durch ein neues Völkerrecht“ als Ziel verkündet war. Der Aufruf des Bundes Mitteleuropa hat auch Dr. Stilgebauer unterzeichnet, und man wagt ihn im Lande umherzusenden trotz dieser Unterschrift und trotzdem man wissen muss, dass Stilgebauer in niederträchtigster Weise sein deutsches Vaterland in den Kot gezerrt hat, um gleichzeitig in die Schweiz zu flüchten, von wo er aus den Aufruf unterzeichnet hat.

Ist es wirklich so unbegreiflich, dass Angesichts solcher Zusammenhänge des Vertrauens im Lande nicht zunimmt, sondern immer mehr zusammenbricht. Diese Zusammenhänge sind doch zu offensichtlich, und sie gehen einher neben der Ausschaltung aller streng nationalgesinnten Kreise aus den der Reichsregierung nahestehenden Bestrebungen. So befindet sich im Nationalausschuss kein konservativer oder freikonservativer Führer, und aus der nationalliberalen Partei sind nur Redner gewonnen, die eine kleine für die Reichskanzlerpolitik eintretende Minderheit darstellen. Leute wie Heydebrand[22] und Bassermann, Stresemann, Vereine wie der Flottenverein, der Wehrverein[23], der Alldeutsche Verband sind so gut wie ausgeschaltet von der Mitwirkung und von allen Bestrebungen, die von der Reichsregierung ausgehen oder mit ihr Beziehungen haben.

Die Zensur wurde dann in ihren Tendenzen immer bedenklicher. Mir selbst wurde folgende Notiz über den Ostmarkenverein von der Zensur gestrichen:

„Der Hauptvorstand des deutschen Ostmarkenvereins ist am gestrigen Mittwoch zu einer überaus stark besuchten Tagung zu Berlin zusammengetreten. Nachdem die Berichte über die Tätigkeit des Vereins seit Kriegsbeginn entgegengenommen waren, wurde besonders zu der mit dem Burgfrieden schwer vereinbaren rührigen Stimmungsmache von politischer und polenfreundlicher Seite Stellung genommen, die geeignet sei, das deutsche Volk von der zielsicheren und nüchternen Verfolgung seines Weges abzulenken. Es wurde betont, dass für die künftige Gestaltung der Dinge im Osten allein die Lebensnotwendigkeiten des deutschen Reiches und Volkes maßgebend sein dürften.“

Als Herr Ballin[24] am 26. Oktober 1915 im Hamburger Rhederverein[25] viele über ihn umgehende falsche Gerüchte widerlegen wollte, hielt er eine Rede, in der er sagte:

„Deutschland kann für seine Zukunft nicht besser sorgen, als wenn es in erster Linie den Erwerb derjenigen maritimen Flottenstützpunkte anstrebt, welche eine gründliche Korrektur des Zustandes gewährleisten, den wir gegenwärtig zu beklagen haben. Man hat mit diesem, von mir schon vor zehn Monaten ausgesprochenen Glaubenssatz die Vermutung verbunden, dass unsere maritimen Bedürfnisse mit Zeebrügge zu befriedigen sind. Das ist natürlich nicht der Fall. Wir brauchen Stützpunkte am Eingang wie am Ausgang am Kanal, wir brauchen starke Stützpunkte über See. Näher auf diese Notwendigkeiten einzugehen verbietet die uns obliegende Zurückhaltung. Der Herr Reichskanzler hat aber bereits in seiner letzten Reichstagsrede die Freiheit der Meere proklamiert, und auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans hat man sich dieser Forderung angeschlossen. Dass diese Freiheit der Meere nicht auf dem Wege von Konventionen und Verträgen gesichert werden kann, haben die Erfahrungen, welche wir bei Beginn und im Verlaufe des Krieges gemacht haben, erwiesen.“

Noch ehe die betreffende Druckschrift in den Redaktionen der Zeitungen vorlag, traf folgende Notiz der Berliner Oberzensurstelle ein:

„Vertrauliche Mitteilung für die verehrl. Redaktionen. Berlin 10. 10. Die in den Reden und Telegrammen aus Anlass der Jahresversammlung des Hamburger Rhedervereins enthaltenen Erörterungen über Flottenstützpunkte dürfen nicht veröffentlicht werden. Oberste Zensurstelle, Kriegspresseamt.“

Und die Generalkommandos telegrafierten eine Stunde später:

„Veröffentlichungen der in den Reden und Telegrammen aus Anlass der Jahresversammlung des Hamburger Rhedervereins enthaltenen Erörterungen über Flottenstützpunkte verboten. Genkdo.“

Als ein angeblich von gut informierter deutscher Seite stammendes deutsches Friedensprogramm in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, erweckte es schwere Befürchtungen, dass das Wolffsche Telegraphenbüro dieses Programm sofort an die deutsche Presse weitergab in Verbindung mit einem ganz schwachen nichtssagenden Dementi. Jeder Zusatz zu dieser Veröffentlichung wurde den Zeitungen verboten, und es traf sogar zur Sicherheit kurz darauf noch folgendes Telegramm ein:

„Auch Besprechungen des Aufsatzes Friedensgedanken aus Neuer Zürcher Zeitung sind nicht zulässig. Genkdo[26].“

Ich wandte mich daraufhin an den Reichskanzler mit der Bitte, kurze zustimmende oder ablehnende Erklärungen zu der von Wolff verbreiteten Kundgebung zuzulassen. Daraufhin erhielt ich folgende Antwort:

„Berlin. Der Züricher Artikel kann nicht zum Anlass einer sachlichen Erörterung über Kriegsziele gemacht werden. Die Weitergabe durch Wolff erfolgte lediglich, weil der Artikel doch bekannt geworden wäre und nicht in sensationeller Aufmachung und ohne sofortiges Dementi publiziert werden sollte. Ich verweise auch noch auf die Notiz in der heutigen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. Wahnschaffe, Unterstaatssekretär, Reichskanzlei.“

Diese Antwort kann der Kern der Dinge nicht treffen. Herr Wahnschaffe hätte mir sie wohl auch nicht so gegeben, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass ich selbst Zeitungsleiter bin, denn sonst wäre ihm zum Bewusstsein gekommen, dass mir die Zensurverbote vor Augen stehen. Diese Zensurverbote hätten verhindert, dass der Artikel der Neuen Zürcher Zeitung überhaupt in Deutschland abgedruckt worden wäre, wenn ihn Wolff nicht verbreitet hätte.

Neuerdings hat die Zensur sogar die Veröffentlichung der Entschließung der Deutschen Kolonialgesellschaft verboten, wohl hauptsächlich deswegen, weil die Kollonialgesellschaft im Gegensatz zu Herrn Dr. Solf die Freiheit der Meere und die Sicherung der Kolonien auf der Grundlage einer starken Seegeltung verlangt, während Herr Dr. Solf glaubt, sie ohne Seegeltung durch Verständigung mit England erlangen zu können. Ich habe den Beleg dafür in der Hand, dass Herr Dr. Solf der Anreger des Verbotes ist, denn Wolffs Büro gab, ehe das Verbot erfolgte, folgende vertrauliche Notiz an die Zeitungen:

„Auf Wunsch des Reichskolonialamtes wird die Presse gebeten, Nachdruck oder Besprechung der vom Vorstand der Deutschen Kolonialgesellschaft aufgestellten, in Nr. 340 der Kreuzzeitung vom 6. Juli abgedruckten kolonialen Leitsätze zu überlassen[27]. Oberzensurstelle des Kriegspresseamtes.“

Besonders verstimmt hat in weiten Kreisen, wo diese Dinge schließlich doch bekannt geworden sind, die Tatsache, dass auch alle Äußerungen von allerhöchsten Persönlichkeiten, die irgendwie geeignet waren, den Siegeswillen des deutschen Volkes zu stärken, die Niederringung des Feindes in Aussicht zu stellen, von der politischen Zensur verboten wurden. Erinnert sei daran, dass die überall mit Jubel aufgenommene Rede Seiner Majestät des Königs von Bayern über die Notwendigkeit der Schaffung eines deutschen Ausgangs in die Meere von der politischen Zensur verboten wurde.

Eine Rede S. M.[28] des Kaisers, die in einem Artikel der Kölnischen Volkszeitung erwähnt wurde und die die Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 19. 3. 1915 durch Abdruck des Artikels ebenfalls erwähnte, wurde verboten. Danach führte der Kaiser aus, dass er gekommen sei, um dem Regiment 68 seine Anerkennung für die Tapferkeit und das Ausharren in starkem Granatfeuer sowie seinen Dank auszusprechen. Deutsche Unerschrockenheit, Tapferkeit und Ausdauer hätten bisher die Bemühungen des Feindes an dieser Stelle unter großen Verlust für die Franzosen zuschanden gemacht und würden es auch weiterhin tun, bis die Zeit für einen für Deutschland günstigen Frieden gekommen sei. In einer weiteren Rede des Kaisers wurde am 23. 10. 1915 folgende Sätze gestrichen:

„Die preußische Garde, die Wachtparade Friedrichs d. Gr., hat im Westen wie im Osten die Feinde niedergezwungen, und diese mussten sehen, was es bedeutet, wenn der König von Preußen seine Garde einsetzt . . . Kaiser Napoleon I, der bekanntlich stolz auf seine Garde war, hat das Wort geprägt: „Die Garde ist die wandelnde Zitadelle des Kaisers.“ So ist es auch mit Euch. Wo das Gardekorps eingesetzt wird, fliegen die Splitter und der Feind wird niedergekämpft.“ (Belege in meiner Hand.)

In einem durch die Telegrafenbüros weitergegebenen Feldpostbrief war eine Rede des Kaisers geschildert worden:

„Die Taten des Landwehrkorps bei den Verfolgungskämpfen sind mit eisernem Griffel in die Weltgeschichte aller Zeiten eingeschrieben, würdig reihen sie sich den Taten der alten schlesischen Landwehr vor hundert Jahren an.“ Dann hieß er uns unsere Kameraden im Schützengraben grüßen und forderte uns auf, durchzuhalten „bis wir den Feind auf die Knie gezwungen haben und ihm einen Frieden diktieren können, der unserer Opfer würdig ist.“

Auch der Ausdruck dieses Passus wurde durch Telegramm des Generalkommandos verboten. Die Rede des Generalfeldmarschalls von Hindenburg, in der das Wort vorkommt „Nicht durchhalten, sondern siegen“ wurde verboten.

Besonders krass trat die Tendenz der Zensur, jede Kritik der Politik des Reichskanzlers zu verhindern, hervor, als vor einer seiner letzten Reichstagsrede die Generalkommandos folgende Depesche versandten:

„Zeitungen werden ersucht, Besprechungen der Reichstagsreden innerhalb des Rahmens zu halten, in der sich die Ausführungen des Reichskanzlers bewegen werden. Genkdo.“

Am Schlimmsten führte die Zensur in Verbindung mit dem Wolffschen Telegrafenbüro und der offiziösen Presse die Öffentlichkeit in die Irre in den amerikanischen Fragen. Stets wenn ein Nachgeben der deutschen Politik gegenüber amerikanischen Forderungen bekannt wurde, wurde die Veröffentlichung über unser Verhältnis zu Amerika zur militärischen Angelegenheit gemacht, so dass jede Stellungnahme unmöglich wurde. Diese Veröffentlichungen hatten stets etwa folgenden Wortlaut:

„Vertrauliche Mitteilung für die Redaktionen. Berlin 25. 12. Veröffentlichungen über unser Verhältnis zu Amerika sind auch fernerhin als militärische Angelegenheiten zu betrachten und zensurpflichtig. Oberkommando in den Marken.“

Gleichzeitig verbreitete dann das Wolffsche Telegrafenbüro Depeschen aus Amerika, die im deutschen Volk den Eindruck hervorriefen, dass die amerikanische Politik im Begriff stehe, gemeinsam mit der deutschen gegen die englischen Sperrmaßnahmen vorzugehen. Ebenso wurde die Pressekonferenz irregeführt. Am 10. August 1915 wurde mir mitgeteilt, der Botschafter Bernstorff habe Wilson nicht im Zweifel gelassen, dass er von uns keinerlei Entgegenkommen zu erwarten habe, wenn er nicht energisch gegen England auftrete. Am 3. August 1915 wurde mir gesagt, es schwebten Verhandlungen zwischen Amerika und uns über Austausch von Farben gegen Baumwolle. Im Oktober nach dem Nachgeben im Arabicfall ließ die Zensur eine Depesche durch, dass Amerika sechs Dampfer mit Nichtbannware ausrüste, um sie nach Gewährleistung durch die amerikanische Regierung nach Deutschland abgehen zu lassen. Diese Dampfer sollten am 21. November ankommen. Sie sind natürlich nicht angekommen.

Ein völlig falsches Bild der Stimmung wurde je nach Bedarf vom Wolffschen Telegrafenbüro durch entsprechende Darstellung von Pressestimmen hervorgerufen. Waren wir im Begriff nachzugeben, so wurde die Stimmung in Amerika als äußerst kritisch hingestellt, hatten wir nachgegeben, so wurde die Hoffnung auf ein Vorgehen Amerikas gegen England erweckt. Jede Kritik der deutschen Presse an diesem Verfahren wurde unmöglich gemacht, so dass das ganze deutsche Volk eine völlig schiefe Anschauung von der Entwicklung der Dinge in Amerika erhielt. Als schließlich die erste österreichische Anconanote veröffentlicht wurde, ging wegen ihres energischen Tones ein Aufatmen durch ganz Deutschland, als aber die zweite zurückweichende Note Österreichs, die unter dem Einfluss der deutschen Politik zustande gekommen sein dürfte, bevorstand, erhielten die Zeitungen schon vorher folgende vertrauliche Anweisung:

„Es wird gebeten, abfällige Beurteilungen des Verhaltens Österreich-Ungarns anlässlich der Antwortnote in der Ancona-Angelegenheit nicht zu veröffentlichen. Oberzensurstelle.“

Solcher Bitte folgte stets prompt das Verbot durch das Generalkommando. Welche andere Regierung würde sich, nur um der Kritik zu entgehen, des gewaltigen Kampfmittels der Volksstimmung planmäßig berauben? Auch hier also wurde jede Möglichkeit, die deutsche Volksstimmung zum Ausdruck zu bringen, von vornherein abgeschnitten.

In der mit den amerikanischen Fragen zusammenhängenden Angelegenheit des Unterseebootkrieges haben die offiziöse Presse, deren Äußerungen vom Wolffschen Telegrafenbüro vielfach weitergegeben wurden, und andere offiziöse Stellen eine Irreführung der deutschen öffentlichen Meinung vorgenommen, wie sie schlimmer kaum noch vorstellbar ist. Es wurden in Sonderheit drei Behauptungen allgemein verbreitet:

  • die deutsche U-Bootflotte sei nicht stark genug, um einen erfolgreichen Handelskrieg führen zu können,
  • der Reichskanzler habe in der Kommission des Reichstages so gewichtige Gründe für seine Anschauung vorgebracht, dass sich die Anhänger des U-Bootkrieges diesen Gründen nicht hätten verschließen können,
  • die führenden Bankmänner seien Gegner des U-Boot-krieges und hätten sich gegen diesen ausgesprochen.

Alle drei Behauptungen sind unwahr. Der Admiralstab hat durch seine Denkschrift vom 12. Februar 1915 ausdrücklich erklärt (Leitsatz 5), dass England mit Hilfe des U-Bootkrieges „längstens in sechs Monaten zum Friedensschluss gezwungen“ werden kann. Der Chef des Admiralstabes hat diese Ansicht dauernd aufrecht erhalten und hat sich nur den politischen Bedenken der Reichsregierung gefügt. Die Reichsregierung hat u. a. auch auf die gefährdete Haltung der Neutralen hingewiesen. Es liegt das auf der Richtlinie ihrer Politik des Ausweichens vor allen Schwierigkeiten, und es darf demgegenüber wohl zitiert werden, was der Admiralstab Herrn Dr. Helfferich erwidert hat, als dieser die Denkschrift des Admiralstabes zu entkräften wenig erfolgreich versucht hat. Der Admiralstab sagte da:

„Auch die politische Frage, wie die Gefahr des etwaigen Eintritts weiterer Neutraler in den Krieg gegen uns zu beurteilen sei, fiel nicht in den Rahmen der Denkschrift. Nachdem die Frage aber von dem Bericht einmal angeschnitten ist, soll die auf die Erfahrung der Geschichte sich stützende Überzeugung bekundet werden, dass ein fester, schnell und rücksichtslos durchgeführter Entschluss wie überall so auch im politischen Leben das beste Mittel zum Erfolg und zur Abwehr wirklicher oder vermeintlicher Gefahren ist.“

Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass die militärischen Autoritäten den U-Bootkrieg für durchführbar und seinen Erfolg für sicher halten. Die vom Admiralstab in Aussicht genommenen technischen Erfolge sind vom Reichskanzler denn auch nicht bestritten worden. Er hat in der Kommission des Reichstages zugegeben, dass er die Angaben des Admiralstabes nicht bestreiten wolle, es könnten in sechs Monaten vier Millionen Tonnen von Englands Handelsflotte versenkt werden. Der Reichskanzler steht jedoch auf dem Standpunkt, dass das nicht ausreiche, um England zum Frieden zu zwingen, und er scheut bezüglich des Aushungerungsgedankens sogar den Vergleich Englands mit dem agrarisch viel stärkeren Deutschland nicht, wo die Aushungerung ja auch nicht gelungen sei.

Wie die Heranziehung eines unmöglichen Vergleiches so haben nach dem mir vorliegenden Bericht in der Kommission des Reichstages andere Äußerungen des Reichskanzlers deutlich dargetan, dass er sich in das Problem des U-Bootkrieges technisch nicht vertieft hat, dass er nicht einmal die Ansichten der militärischen Autoritäten über die anzuwendenden Methoden kannte, als er die Sache in der Kommission vertrat. Leider hat auch Herr v. Capelle den Vergleich zwischen England und Deutschland in Bezug auf das Aushungern gezogen, eine Tatsache, die zu ernsten Bedenken wegen des Unterrichtetseins der maßgebenden Stellen Anlass gibt. Der Reichskanzler hat nach dem mir vorliegenden Bericht in der Kommission des Reichstages nichts an Gründen gegen den U?Bootkrieg vorgebracht, was nicht vorher schon allen Männern, die sich mit Politik beschäftigen, bekannt gewesen wäre. Der Erfolg seines Auftretens ist denn auch nicht gewesen, dass er die anders denkenden Abgeordneten auch nur im Entferntesten von dem Gewicht seiner Gründe überzeugt hätte, im Gegenteil, der sachliche Gegensatz bestand auch nach der formellen Einigung noch so stark wie zuvor. Das geht am Besten daraus hervor, dass der letzte Redner für die U-Boot-Anträge, der vor der formellen Einigung sprach, noch folgenden vom scharfen Gegensatz gegen den Reichskanzler zeugenden Satz aussprach:

„Wenn der Reichskanzler auch davon spreche, dass Dr. Stresemann nur einen Vermittlungsfrieden durch die rücksichtlose Führung des U-Bootkrieges erreichen könne, so müsse man dem Kanzler die Frage stellen, wie denn der Friede aussehen soll, den er erreiche, wenn er auf den U-Bootkrieg verzichte, und ob er sich denn einen Plan ausgesucht habe, wie der Krieg zu Ende geführt werden soll, wenn er die Kampfmittel zur Niederringung des Hauptfeindes nicht anwende, die wir besitzen.“

Es ist eine unerhörte Geschichtsklitterung der offiziösen Presse, wenn immer wieder versucht wird, die Dinge so durchzustellen, als sei die Einigung im Reichstage erfolgt, weil der Reichskanzler seine Stellungnahme habe mit durchschlagenden Gründen verteidigen können. Auch die Behauptung, die führenden Bankmänner seien Gegner des U-Bootkrieges, ist falsch. Die zehn Gutachten, die aus wirtschaftlichen Kreisen zur Denkschrift des Admiralstabes erstattet worden sind, stellen sich durchweg auf den Standpunkt, dass aus der Not heraus der U-Bootkrieg unter allen Umständen geführt werden muss und dass man ihn führen muss auf die Gefahr hin, dadurch mit Amerika in Konflikt zu kommen. Drei von diesen Gutachten sind durch bedeutende Bankmänner erstellt worden, das eine von Herrn Geheimen Oberfinanzrat Waldemar Müller, Vorsitzender den Aufsichtsrates der Dresdener Bank, das zweite von Herrn Dr. Salomonsohn, Geschäftsinhaber der Diskontogesellschaft, das dritte von Herrn Max Schinkel, Geschäftsinhaber der Norddeutschen Bank-Hamburg. Dr. Sa-lomonsohn stellt ausdrücklich fest, dass die Mehrzahl der führenden Persönlichkeiten der Bankwelt wie von Handel und Industrie seinen Standpunkt teilten, dass „wir alle mit einem Bruch zwischen Deutschland und Amerika verbundenen Opfer tragen müssten, wenn wir nicht noch größeren und dauernden Schädigungen uns aussetzen wollten.“

Die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen, da sie sich auf ganz bestimmte Belege stützt, dass für die Entscheidung in der Frage des U-Bootkrieges nicht die politischen in Verbindung mit den Neutralen stehenden Gründe allein maßgebend gewesen sind, sondern dass auf diese Entscheidung auch die Ansichten eingewirkt haben, die noch heute in den Kreisen der Reichsregierung in Bezug auf das Verhältnis zu England bestehen. Der Kanzler hat selbst in der Kommission des Reichstages die überaus befremdliche Äußerung getan, dass, wenn wir den U-Bootkrieg rücksichtslos führten, England den Krieg auf Tod und Leben bis zum letzten Atemzug fortsetzen werde. Diese Äußerung muss umso mehr Erstaunen erwecken, als ein Beweis, dass England schon jetzt zum Äußersten entschlossen ist, eigentlich nicht mehr erforderlich sein sollte. Der Kanzler hat ferner der Befürchtung Ausdruck gegeben, dass England infolge eines rücksichtslosen U-Bootkrieges den Druck auf gewisse neutrale Staaten noch verstärken werde. Auch das muss als eine äußerst merkwürdige Auffassung bezeichnet werden, da es ja offensichtlich ist, dass ohnehin England schon jetzt alle Mittel anwendet, die ihm zur Verfügung stehen, um auf die Neutralen jeglichen Druck auszuüben. Doch muss ich es dahingestellt sein lassen, ob der Kanzler selbst auch heute noch mit dem Gedanken spielt, dass der Krieg am Besten durch eine Verständigung mit England auf der Grundlage der im Sommer 1914 zusammengebrochenen Politik zu beendigen sei. Sicher und beweisbar ist nur, dass der Kanzler nicht verhindert, wenn immer wieder maßgebende Persönlichkeiten der Reichsregierung und die der Reichsregierung nahestehende Presse diesen Gedankengang in den Vordergrund rücken. So hat bei Gelegenheit des Abgangs von Tirpitz die Frankfurter Zeitung in einem Leitartikel gesagt, dass man ja heute Burgfrieden habe, dass aber später einmal die Zeit sein werde, wo man zu untersuchen habe, ob wir den Krieg mit dem erbittertsten Gegner überhaupt hätten, wenn die Politik des Herrn v. Tirpitz nicht gewesen wäre. Herr Unterstaatssekretär Zimmermann schlug in einer Unterhaltung mit mir Mitte März 1916 in dieselbe Kerbe, indem er sagte:

„Wer weiß denn, ob wir den Krieg mit England überhaupt hätten, wenn nicht die Politik des Großadmirals, sondern die unsrige zum Ziele gelangt wäre?“

Das war ein deutlicher Hinweis auf die Verhandlungen im Jahre 1912 und 1914, die eine Schwächung der deutschen Seegeltung der Verständigung mit England zuliebe angestrebt hatten, eine Schwächung, der die Hand zu bieten Herr v. Bethmann Hollweg bereit war und die verhindert zu haben das historische Verdienst des Herrn v. Tirpitz ist.

Herr Ministerialdirektor Dr. Lewald vom Reichsamt des Inneren erklärte gegenüber den Beiratsmitgliedern des Luftflottenvereins im Frühjahr d. J. bei Durchsicht der Vereinssatzung etwa:

„Nein, nein, das mit der Vergrößerung der deutschen Luftflotte als Ziel des Vereins muss heraus aus den Satzungen, von solchen Dingen haben wir genug. Der Flottenverein hat uns diesen Krieg gebracht, der Luftflottenverein will uns wohl den nächsten bringen.“

Als Beiratsmitglied des deutschen Luftflottenvereins habe ich in einer Sitzung des Vereins sofort Veranlassung genommen, auf die Gefahr dieser politischen Richtung in der Reichsregierung hinzuweisen.

Endlich hat Herr Staatssekretär Solf in seiner im Lande gehaltenen Rede über die Möglichkeit der Schaffung und Erhaltung eines großen Kolonialreiches ohne die Erlangung der Freiheit der Meere in einer privaten Unterhaltung am 17. Mai 1916 folgendermaßen ergänzt: Er sei der Ansicht, dass ein Kampf gegen England aussichtslos sei. Englands Macht, die er aus den Kolonien genau kenne, sei viel zu fest basiert, als dass wir sie erschüttern könnten. Das einzig Richtige sei eine Rückkehr zu der im Sommer 1914 abgebrochenen Politik. Wir müssten auf eine Neugruppierung der Mächte und auf eine Verbindung mit England und Amerika hinarbeiten, die durch Tirpitz und sein Flottenprogramm zerstört sei.

Ich vermeide es ausdrücklich, auf zahllose andere Mitteilungen einzugehen, die sämtlich auf der gleichen Richtlinie liegen, weil ich die mir bekannt gewordenen anderen Mitteilungen nicht so sicher belegen kann wie die eben erwähnten. Aber es muss doch darauf hingewiesen werden, dass die gesamte Presse, die ständig deutlich durchblicken lässt, dass sie die Ansichten der Reichsregierung widerspiegelt, seit vielen Monaten ähnliche Gedanken im Lande propagiert, ohne dass bisher die Reichsregierung jemals Veranlassung genommen hat, diese Presse von ihren Rockschößen abzuschütteln. Es kann deshalb nicht Wunder nehmen, wenn im ganzen Lande die Ansicht sich mehr und mehr verbreitet, dass die Reichsregierung mit Rücksicht auf ihre Verständigungshoffnungen den Krieg gegen England nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu führen wünscht. Ich habe selbst den authentischen Beleg in der Hand, den ich aber nur mündlich und streng vertraulich mitteilen kann, dass diese politische Betrachtungsweise der Reichsregierung schon auf die Mobilmachungsmaßnahmen in Bezug auf den Krieg gegen England, die Verwendung der Flotte und Bildung gewisser Etappenlinien unheilvollen Einfluss ausgeübt hat.

Die Weiterverbreitung solcher Ansichten geschieht vielfach unter Hinzufügung von nach meiner Ansicht sachlich unbegründeten, aber doch äußerst gefährlichen Gerüchten, die auch auf die Vertrauensbeziehung des Volkes zur Krone einen vergifteten Einfluss ausüben. In den weiten Schichten des Volkes nicht nur, sondern auch in der Intelligenz hat man die Überzeugung, dass England diesen Krieg bis zum Äußersten fortsetzen werde und dass es England durchaus ernst mit einer wirtschaftlichen Niederringung Deutschlands ist. Man befürchtet, dass die Fortführung des Krieges auf dem bisherigen Wege zum Zusammenbruch Deutschlands führen muss. Und diese Befürchtung wird auch von den früher erwähnten zehn Autoritäten des Wirtschaftslebens geteilt. Eine dieser Autoritäten hat die Nichtanwendung des U-Bootkrieges gerade mit Rücksicht darauf als eine Handlung bezeichnet, die dem Selbstmord aus Furcht vor dem Tode gleich kommt. In der Tat ist der Gedanke, dass wir nunmehr vielleicht England schon mit Hilfe des U-Bootes zu einem Frieden gezwungen hätten, dass vielleicht die ganzen ungeheuren Blutopfer der letzten Monate nicht mehr notwendig gewesen wäre, derart gefährlich für die Stimmung im Lande, dass sich Kaiser und Bundesfürsten klar über katastrophale Entwicklung sein sollten, die die Dinge in Deutschland nehmen könnten, wenn es so weitergeht wie bisher.

Allmählich sickert das alles durch, was ich in diesen Zeiten niedergelegt habe, allmählich wird sich die deutsche Öffentlichkeit völlig klar darüber, dass sie von der Reichsregierung auf den verschiedensten Gebieten irregeführt worden ist, dass sie getäuscht worden ist auf den Gebieten von wichtigsten Lebensfragen, und je mehr diese Klarheit wächst, umso mehr muss natürlich das Vertrauen zur Reichsregierung sinken und umso mehr muss auch der Glaube weichen, dass die Entscheidungen in den Fragen des Krieges gegen England dem Interesse des deutschen Volkes dienlich gewesen sind. Man gibt sich darüber keinem Zweifel hin, dass, wenn England nicht niedergerungen wird, der Krieg günstigstenfalls remis ausgeht und dass man dann für Deutschland eine innerpolitische Lage entsteht, die die Keime der Zersetzung in sich trägt. Eine Steigerung des Reichsetats von 3,5 Milliarden auf 10 Milliarden und mehr, eine Steigerung der Schulden der Bundesstaaten und vor allem auch der Gemeinden wird die Folge des Krieges sein, ein Steuerdruck ohne Gleichen wird einsetzen, um nur die laufenden Lasten decken zu können. Die jetzt sich stark geltend machenden radikalen Bestrebungen in dem linken Flügel der Sozialdemokratie werden rapide Fortschritte machen, und das Ende wird ein Kampf aller gegen alle sein.

Nur mit tiefster Besorgnis sehen alle weiterblickenden Elemente im Volk, soweit sie sich nicht absichtlich die Augen verschließen oder ganz im Fahrwasser der Politik des Reichskanzlers schwimmen, wie die Reichsregierung der schon jetzt fortschreitenden Zersetzung der Volksstimmung nicht nur mit verschränkten Armen zusieht, sondern auch sogar durch ihre Zensurmaßnahmen und durch ihr Verhalten in der U-Boot-frage jede die Stimmung fördernde Bewegung vernichtet. Es fehlt jeder Versuch, durch die Aufzeichnung von großen Zielen und Notwendigkeiten der Zukunft dem Volke zu zeigen, dass die Fortführung des Krieges eine Lebensnotwendigkeit der Nation ist, es fehlt jedes stark aufmunternde Wort von der leitenden Stelle, und wenn einmal eine fürstliche Persönlichkeit ein solches Wort ausspricht, so wird es wie ich oben zeigte, von der Zensurbehörde rücksichtslos unterdrückt.

Es muss bei der Betrachtung dessen, was ich hier vorzubringen hatte, wohl im Auge behalten werden, dass die Schlüsse, die ich daraus gezogen habe, unterstützt werden durch zahllose Einzelheiten, die im Laufe der Zeit diesen oder jenen Kreisen bekannt geworden sind, dass ferner sie unterstützt werden durch die Haltung der gesamten der Reichsregierung nahestehenden Presse und endlich auch durch die Zusammensetzung des Nationalausschusses, der von sich behauptet, dass er im Einvernehmen mit dem Reichskanzler arbeite. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass folgende Schlüsse auf der Hand liegen:

  • Der Reichsregierung fehlt es an der notwendigen Entschlusskraft, um die rücksichtslosen Entscheidungen treffen zu können, die die erfolgreiche Fortführung des Krieges erheischt,
  • der Diplomatie fehlt es an dem politischen Blick und an der rücksichtslosen Energie, die die Diplomatie Englands auszeichnen,
  • die Tatsachen haben erwiesen, dass der Reichskanzler gleichfalls weder über diesen politischen Blick noch über die erforderliche Rücksichtslosigkeit verfügt,
  • das Volk im Lande beginnt diese Schlüsse gelöst zu ziehen und leitet daraus schwere Besorgnisse für den Ausgang des Krieges und für die Zeit nach dem Kriege ab.

Es nützt nichts, alle diese Schlussfolgerungen zurückzuführen auf dunkle Machenschaften einzelner Persönlichkeiten. Gegnerschaft gegen die Person des Reichskanzlers dürfte nur bei ganz vereinzelten Männern vorhanden sein, mir ist sie noch nicht begegnet. Aber aufgrund der vorliegenden Tatsachen bezweifeln weiteste Kreise die Fähigkeit des Reichskanzlers, die Geschicke unseres Volkes in dieser schweren Zeit zum guten Ende zu führen, und aus diesem Zweifel heraus, der sich auf nackte Tatsachen begründet, in die tiefen und ernsten vaterländischen Besorgnisse um den Bestand des Reiches entstanden, deren Ausdruck die Bayerische Staatszeitung gänzlich falscher weise und in völliger Verkennung des bedeutsamen Hintergrundes als Machenschaft zur Säeung von Misstrauen gegen die führenden Männer des Reiches bezeichnet. Je länger der Krieg dauert, ohne dass wir zu den notwendigen Entscheidungen kommen, umso schwieriger wird es sein, die Schäden, die inzwischen täglich entstehen, durch Verluste an Blut und an Gut, noch auszugleichen, desto schwieriger wird es auch sein, die Volksstimmung vor katastrophalen Entwicklungen zu bewahren, desto schwieriger wird es sein, die neutralen Länder von unserem Kraft- und Siegesbewusstsein überzeugt zu halten, und desto schwieriger wird es sein, den Krieg zu einem Ende zu führen, dass dem deutschen Reiche auch nur eine beschränkt gesicherte Zukunft gewährt.

Ich spreche das offen aus, nicht weil mir daran liegt, irgendjemand das Vertrauen zur Reichsleitung zu nehmen, sondern weil ich es für erforderlich halte, dass sich die Kreise, die Einfluss auf die Entscheidungen der Reichsregierung haben, klar werden über die unabsehbaren Gefahren, die Kaiser und Reich aus der Entwicklung der Politik in der Gegenwart erwachsen.

Die Stunde beim Grafen Kaspar Preysing

An einem düsteren Frühherbsttage 1916 erhielt ich überraschend in meiner Wohnung einen telefonischen Anruf des Reichsrates Grafen Kaspar Preysing[29]. Er sei auf kurzem Urlaub hier und müsse mich unbedingt sprechen. Ich erklärte, dass ich ihm selbstverständlich gerne zur Verfügung stünde, er brauche nur zu bestimmen, wann und wo. Er war in seinem Palais an der Prannerstraße, und so vereinbarten wir, dass ich ihn dort gegen vier Uhr Nachmittag aufsuchen würde. Das Erlebnis der Stunde, die ich dann bei ihm verbrachte, kann durch nichts aus meiner Erinnerung ausgelöscht werden. Wie oft habe ich seitdem an sie gedacht und an die problematischen Worte, die dieser wahrhafte Edelmann, der gegen Ende des Krieges noch sein Leben für das Vaterland hingab, zu mir sprach. Ich saß in der Halbdämmerung und hörte aufmerksam zu, und er ging rast- und ruhelos in dem Raum auf und ab und sprach mit flammender Leidenschaft von der stümperhaften Politik, der das deutsche Volk zum Opfer zu fallen im Begriff stünde, und von dem furchtbaren Unglück, dem es entgegenginge. Er selbst meinte, vielleicht schon in einer Todesahnung, das Kommende nicht mehr erleben zu müssen, aber mich flehte er an, durch die Presse doch alles zu tun, was in meiner Kraft läge, um der entsetzlichen Gefahr entgegenzuarbeiten, auch wenn es, wie er glaube und befürchte, schon zu spät sei. Dass es zu spät sei, war zu jener Zeit auch bereits seine Überzeugung, und so ging ich in tiefster Erschütterung und Mutlosigkeit von dem Manne hinweg, den ich dann nur einmal noch lebend sah.

Wenn ich in diesem Kapitel bisher versucht habe, ein Bild von dem Wesen und der Tätigkeit des Volksausschusses zur Niederkämpfung Englands zu geben, so habe ich damit auch einen letzten Wunsch meines Freundes Seitz erfüllt, der mir noch kurz vor seinem Tode, als ich ihn zu seinem 75. Geburtstag beglückwünscht hatte, u. a. zurückschrieb:

„Die Geschichte des Volksausschusses für rasche Niederkämpfung Englands ist noch zu schreiben. Sie gehörten ja auch dazu. Auf diese in ihrer Art auch heroischen Taten die nachwachsenden Jugend hinzuweisen, wäre wohl nutzbringend und Richtung gebend. Nicht, selbstverständlich, der in Betracht kommenden Menschen, sondern des glühenden, auf das Volksganze gerichtete seelische Wollens wegen,“

Es zieht sich etwas gegen mich zusammen

Ich muss nun wieder zurückgreifen. Denn in der Zwischenzeit waren schon die Fäden gesponnen, über die ich stolpern sollte. Im September 1915 fand in Berlin die Jahrestagung des Reichsverbandes der Deutschen Presse statt, an der ich als zweiter Vorsitzender und als Vorsitzender des bayerischen Unterverbandes teilzunehmen hatte. Zu einem Essen, das der Reichsverband im Hotel Esplanade gab, war auch der Reichskanzler geladen. Er erschien indes nicht selbst, sondern schickte als seinen Vertreter den Unterstaatsekretär Wahnschaffe. Als zweiter, ihm noch nicht persönlich bekannter Vorsitzender wurde ich ihm zuerst vorgestellt und als er hörte, dass ich aus München käme, fiel er sich in seiner hohen Fistelstimme sogleich mit der vorwurfsvollen Frage an: „Nu sagen Sie mal, warum sind denn die Leute da unten bei Ihnen so aufgeregt?“ Er meinte mit den aufgeregten Leuten zweifellos den Volksausschuss zur Niederkämpfung Englands. Da ich nicht die Absicht hatte, irgendetwas zu verbergen oder zu beschönigen, vielmehr in dem Zusammentreffen eine günstige Gelegenheit sah, einmal unsere Absichten gewissermaßen an zuständiger Stelle darzulegen – war doch Wahnschaffe Bethmanns rechte Hand – so erwiderte ich auf seine Frage, dass ich als Mitglied des Ausschusses, den er mit den aufgeregten Leuten wohl meinte, über die bei uns herrschenden Meinungen und Verhältnisse sehr wohl Auskunft zu geben in der Lage wäre. Aus der Tatsache, dass der Herr Unterstaatssekretär von meiner Ausschussmitgliedschaft bereits wusste, zog ich den naheliegenden Schluss, dass der gute Mann präpariert und sozusagen auf mich dressiert war. Und der weitere Verlauf der Begegnung, bestätigte das durchaus.

Man setzte sich zu Tisch, wobei der Herr Unterstaatssekretär als Vertreter des Kanzlers zwischen unserem ersten Vorsitzenden Marx und mir seinen Platz hatte. Eine gute Stunde lang widmete Wahnschaffe sich fast ausschließlich der Aussprache mit mir oder, vielleicht besser ausgedrückt, der Aufgabe, mich von der Güte und Vortrefflichkeit der Bethmannschen Politik zu überzeugen. Unser Tischgespräch begann damit, dass ich dem Herrn Unterstaatssekretär erklärte, die Leute in München, die er im Auge habe, seien zwar nicht aufgeregt, aber außerordentlich besorgt über den politischen Ausgang des Krieges. „Sehen Sie, Exzellenz“, fuhr ich fort, „die Leute bei uns in München sagen: ein Reichskanzler, der sich am 4. August im Reichstage hinstelle und erkläre, wir hätten Unrecht an Belgien getan und würden dieses Unrecht wieder gutzumachen suchen, und ein Reichskanzler, der den U-Bootkrieg feierlich erkläre und ihn dann nicht durchführen könne oder wolle, das sei kein Reichskanzler. Hier bei diesem zweiten Punkt hakte Wahnschaffe ein, die Reichstagsäußerung Bethmanns über Belgien überhörte er. Der Herr Reichskanzler, so suchte er mir eindringlich klarzumachen, werde vielfach verkannt und nicht verstanden. Die Leute übersähen, dass er auch nicht immer so könne, wie er wolle, dass er mit starken Widerständen zu kämpfen hätte. Jetzt fiel ich ihm ins Wort: „Sehen Sie, Exzellenz, da sagen die Leute bei uns in München, wenn sie das hören, und sie hören es nicht selten: ein Reichskanzler, der seine Politik nicht durchsetzen könne oder wolle, das sei kein Reichskanzler. Wenn er es nicht könne infolge von Widerständen unverantwortlicher Kräfte, so müsse er eben die Konsequenzen ziehen.“ In diesem Sinne ging unser Gespräch fast während des ganzen Essens hin und her. Der Herr Unterstaatssekretär mühte sich redlich, mir seinen Kanzler immer aufs Neue als den großen Politiker hinzustellen, der leider in manchen Kreisen des deutschen Volkes nicht gebührend geschätzt würde. Als Wahnschaffe endlich merkte, dass er mit seinen Hymnen auf den großen Politiker und Kanzler Bethmann Hollweg bei mir keinen Eindruck zu erzielen vermochte, wurde er zusehends kühler und zugeknöpfter.

Nach aufgehobener Tafel bildete sich bei Kaffee, Schnäpsen und später Bier zwanglose Gruppen. Ich geriet mit anderen Kollegen an einen großen runden Tisch, an dem den Mittelpunkt der Gesellschaft der Chef des Nachrichtenwesens des Reichsmarineamtes, Kapitän z. S. Widenmann, ein Stuttgarter, bildete. Nebenan an einem gleichen runden Tisch hatten sich aus der Kollegenschaft Bethmann-Anhänger um den Herrn Unterstaatssekretär geschart. Ich saß neben dem Kapitän Widenmann, mit dem ich mich vorzüglich unterhielt. Verschiedene Male bemerkte ich deutlich, wie der Herr Unterstaatssekretär zu uns herüberlinste, wobei er sich wohl denken mochte, da ist er nun gerade in die richtige Gesellschaft geraten. Denn die Gegensätze zwischen Reichskanzlei und Auswärtigem Amt auf der einen und dem Reichsmarineamt auf der anderen Seite waren ja zur Genüge bekannt. Ich muss dabei allerdings sagen, dass die Gespräche, die ich mit Kapitän Widenmann führte, so harmlos und allgemeiner Natur waren, dass auch der Herr Unterstaatssekretär sie hätte hören können. Beim Aufbruch spielte sich noch eine aufschlussreiche Szene ab. Der Herr Unterstaatssekretär verabschiedete sich von allen in seiner Nähe befindlichen Herren, auch solchen unseres Tisches, mit Händedruck. Nur mich schnitt er ostentativ. Das machte mich an sich nicht unglücklich, aber ich begann doch, mir so allerlei Gedanken zu machen.

Mein Aufsichtsrat wird ängstlich

Nach München zurückgekehrt erhielt ich bald den Besuch eines Mitgliedes unseres Aufsichtsrates, des Herrn Hugo Bruckmann, der später bei der NSDAP noch eine bedeutende Rolle spielte und nach seinem Tode sogar ein Staatsbegräbnis erhielt. Er und seine Frau, eine geborene Prinzessin Cantacuzene, zählten zu den ältesten Mitgliedern der Partei. Herr Hugo Bruckmann sagte mir, dass man in Regierungskreisen äußerst unzufrieden mit unserer (der München-Augsburger Abendzeitung) Politik wäre. Er teile mir das mit, damit ich Bescheid wüsste. Seine persönliche Meinung sei mir ja bekannt. Nicht lange darauf wurde ich von dem Baron Paul v. Stengel vom Ministerium des Äußeren, der dort so eine Art von Adjudant (Büchsenspanner sagte man früher in Bayern zu so etwas) des Ministerpräsidenten Grafen Hertling war, telefonisch angerufen: „Herr Chefredakteur, können Sie mich nicht in nächster Zeit einmal besuchen, es gäbe so vieles über politische Dinge zu sprechen.“ Nach den Berliner Erfahrungen und dem Gespräch mit Hugo Bruckmann konnte ich mir mit ziemlicher Gewissheit zusammenreimen, was los war, und da ich keine Lust hatte, weiter unfruchtbare Unterhaltungen zu führen und außerdem tatsächlich jede Minute meiner Zeit kostbar war,  so gab ich dem Herrn Baron zu verstehen, ich wäre leider so stark in Anspruch genommen durch meine Redaktionsgeschäfte, dass ich nicht wüsste, ob ich die Zeit zu diesem Besuch finden würde. Überdies dachte ich bei mir: Wenn Du etwas von mir willst, dann kannst Du auch zu mir kommen, denn der Weg von Dir zu mir ist genau so weit wie umgekehrt. Item, ich ging nicht hin, und das war der Freundschaft der Herrschaften zu mir begreiflicherweise nicht förderlich.

Wieder über eine Weile fand sich ein anderes Mitglied unseres Aufsichtsrates, Herr Alfons v. Bruckmann, bei mir ein und begann ein heftiges Lamento über die Missstimmung, die in Regierungskreisen gegen unser Blatt wegen seiner Politik bestehe. Die Melodie kannte ich ja nun nachgerade und deutete das auch dem Herrn v. Bruckmann ohne Umschweife an. Ferner sagte ich ihm, dass für mich und die von mir zu verfolgende Haltung der Zeitung wie immer und wie es auch zu Stolzens Zeiten gewesen, zwei Gesichtspunkte maßgebend seien:

  1. das Wohl des Vaterlandes und
  2. das Wohl der Zeitung.

Beide schienen mir bei der Politik, die ich bisher geführt, am besten aufgehoben. Für den Punkt 1 sei in dieser Hinsicht der Beweis natürlich jetzt nicht zu erbringen, den könnte und werde die Zukunft liefern. Bis dahin müsse man nach Überzeugung und Gewissen handeln. Was den Punkt 2 betreffe, so sei der Beweis schon erbracht durch den Erfolg der Zeitung. Mit Herrn Alfons v. Bruckmann war indes über solche Dinge nicht zu reden. Er fühlte sich offenbar für seinen Adel der bayerischen Regierung verpflichtet und glaubte deshalb die Zeitung, deren Mitbesitzer er war, unter allen Umständen in deren Dienst stellen zu sollen. Die bayerische Regierung, unter Hertlings, des ehemaligen Zentrumsparlamentariers, Führung eine ausgesprochene Zentrums-, also Parteiregierung, wenn sie das auch nicht wahrhaben wollte, gewährte in der Kriegspolitik dem Reichskanzler Bethmann Hollweg blindlings Gefolgschaft. Ihr Verhalten gegenüber der Audienz unserer Abordnung beim König beweist das hinreichend. Was sie später Herrn v. Bethmann zuliebe in meiner Angelegenheit tat, war überhaupt nicht mehr zu überbieten. Denn die bayerische Regierung, wenn sie es nicht wollte, hätte es nicht nötig gehabt, dem Herrn Reichskanzler bei dem schäbigen Geschäfte Handlangerdienste zu leisten. Möglicher- oder sogar Wahrscheinlicherweise lag hier freilich auch noch eine kleine, nicht weniger schäbige Nebenabsicht vor. Nämlich abgesehen davon, dass man sich den Herrn Reichskanzler verpflichtete für den Fall, dass man (die bayerische Regierung oder das Zentrum) einmal Wünsche hatte, ließen sich vom Standpunkt des Politikers Hertling aus noch zwei andere Zwecke damit erreichen. Hertling hatte schon bald nach Übernahme der Ministerpräsidentschaft ein eigenes Zeitungsorgan, die Bayerische Staatszeitung (als Neugründung) sich zugelegt, mit der er zunächst einmal und nötigenfalls die ihm früher wenigstens nicht sehr freundlich gesinnte bayerische Zentrumspresse in Schach halten konnte. Man denke nur an Hertlings berühmt gewordenen „Hausknecht“-Artikel im „Hochland“ und die scharfe Fehde der bayerischen Zentrumspresse dagegen, die für Hertling mit dem Verlust seines bayerischen Reichsmandates endete. Hauptsächlich war die Bayerische Staatszeitung aber wohl dazu bestimmt, der München-Augsburger Abendzeitung als der bayerischen Beamtenzeitung Abbruch zu tun. Denn diese war ja doch ein liberales, wenn auch rechtsliberales, und zudem noch von früher her protestantischer Hinneigung verdächtiges Blatt, und eine Zentrumsregierung konnte Dergleichen doch nicht gut als „Beamten-Evangelium“ dulden. Durch meine Kaltstellung forderte man undreistig diesen Zweck, und darüber hinaus konnte man auch hoffen, dass die Staatszeitung Nutzen davon haben werde.

Ich hatte Herrn v. Bruckmann bei seinem Besuch auch erklärt, dass ich mit der Meinung einzelner Herren des Aufsichtsrates, die ja keineswegs miteinander übereinstimmten, nichts anfangen könne. Wenn die Herren der Ansicht seien, dass die Politik, die ich durch die Zeitung mache, nicht richtig sei, dann bäte ich einen Aufsichtsratsbeschluss herbeizuführen, mit der könnte ich mich alsdann auseinandersetzen. Die kriegspolitische Lage hatte inzwischen für uns insofern eine günstige Wendung genommen, als im Herbst 1916 Hindenburg und Ludendorff die Oberste Heeresleitung übertragen erhalten hatten. Dass diese neue Oberste Herresleitung unter allen Umständen von uns unterstützt werden musste, war sowohl meine wie unseres Aufsichtsrates Auffassung. Unter dem 26. Oktober 1916 schrieb ich in einem Brief an Herrn v. Bruckmann den Satz: „Wir sind mit Hindenburg und Ludendorff und reden dabei von Bethmann Hollweg möglichst wenig oder gar nichts.“ Der Herr Reichskanzler freilich mochte bezüglich des Wechsels in der Obersten Heeresleitung und seiner Stellung zu ihr anderer Auffassung sein. Er glaubte offenbar mindestens anfänglich, sich der neuen Obersten Heeresleitung für seine Zwecke bedienen, mit anderen Worten, damit seine Gegner im deutschen Volke milder stimmen, vielleicht überhaupt für sich und seine Politik gewinnen zu können. Dabei hat er sich allerdings verrechnet, und es half ihm auf die Dauer auch nichts mehr, dass er sich zwischendurch aller Gegner in der Presse nach Möglichkeit entledigte. Er entging seinem längst und reichlich verdienten Schicksal doch nicht. Für das deutsche Volk aber war er trotzdem ein großes Unglück, und das Unglück wurde noch vergrößert dadurch, dass Wilhelm II. in der Auswahl seines ersten Ratgebers auch weiterhin die unglückliche Hand bewährte wie bisher: Michaelis, Hertling, Prinz Max von Baden, einer unmöglicher wie der andere, aber etwas anderes konnte Wilhelm der Zweite eben nicht ertragen.

Der blaue Brief

Im Laufe des November 1916 hörte ich nichts Wesentliches mehr von Klagen und Beschwerden über meine Politik und glaubte schon, dass die Wogen sich wieder geglättet hätten. Da prasselte am 28. November 1916 abends um halb acht Uhr in meinem Büro wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich ein eingeschriebener Brief des Aufsichtsrates, gezeichnet vom Vorsitzenden Dr. Schäuffelen, dem Schwager der beiden Bruckmänner, nieder. Es war der blaue Brief, d. h. meine Absägung als Chefredakteur. Das nicht nur für mich allein denkwürdige Schriftstück hatte den folgenden Wortlaut:

Aufsichtsrat der                       Partenkirchen
F. Bruckmann AG.                   München, den 27. Nov. 1916

Sehr geehrter Herr Freund!

Der Aufsichtsrat hat schon seit langer Zeit mit große Missbehagen verfolgt, wie sich Ton und Richtung unserer Zeitung immer mehr von dem klaren, vornehmen Standpunkt entfernt, welcher der Augsburger Abendzeitung durch den unvergleichlichen Karl Stolz aufgeprägt wurde und dem die Zeitung ihr Aussehen und ihre Erfolge in erster Linie zu danken hatte.

Ihr selbständiges Abschwenken  zu den Alldeutschen und der teilweise auch dadurch verursachte scharfe hetzerische  Ton hat nicht nur bei uns, sondern auch bei einem großen Teil unserer Abonnenten vornehmlich in Offiziers- und Beamtenkreisen geradezu Unwillen erregt. Wenn nun der Aufsichtsrat andererseits Ihren großen Fleiß, Ihre aufopfernde Arbeitsleistung, Ihre umsichtige Sparsamkeit und vor allem auch den guten Willen bei den gegebenen schwierigen Verhältnissen rückhaltlos anerkannt und auch gern gesehenen hat, dass Sie in allerletzter Zeit in manchen Dingen Remedur geschaffen haben, so kann er sich doch nicht der bangen Sorge erwehren, dass unter Ihrer Leitung die Zeitung immer wieder in die Richtung verfällt, die Ihrer inneren Überzeugung entspricht und nicht diejenige ist, die der Aufsichtsrat anstrebt.

Deshalb sieht sich der Aufsichtsrat zu seinem großen und aufrichtigen Bedauern zu einem Wechsel in der Hauptschriftleitung der Zeitung gezwungen. Er hat sich zu diesem Zweck an Herrn Dr. Fritz Möhl[30] gewandt. Herr Dr. Möhl hat sich auf seine Aufforderung hin, was wir besonders betonen müssen, bereit erklärt, die ihm angebotene Stellung zu übernehmen. Trotz dieser leider nicht zu umgehenden Änderung liegt dem Aufsichtsrat aber sehr viel daran, Ihre bewährte Kraft der Zeitung zu erhalten, und er schlägt Ihnen daher vor, bei vollem Bezug Ihres bisherigen Gehaltes auch fernerhin in der Redaktion zu verbleiben. Herr Dr. Möhl ist Ihnen, wie wir wissen, sowohl was seine Leistungen wie auch sein verträgliches Wesen anbelangt, zu gut bekannt, als dass sich nicht ein angenehmes kollegiales Verhältnis gestalten könnte.

Hochachtungsvoll   Der Aufsichtsrat der F. Bruckmann AG.
für diesen der Vorsitzende:
Dr. A. Schäuffelen

Das offene Zugeständnis, dass ich wegen meiner Politik gegen Bethmann Hollweg abgesägt werden musste, ist den Herren später sehr leid gewesen, und sie bzw. der spätere Chefredakteur, mein Nachfolger, hatten sogar die Stirn diese Tatsache abzuleugnen, Angesichts dieses Briefes ein starkes Stück. Aber dieser Verlag hat sich ein noch stärkeres Stück geleistet, von dem weiter unten die Rede sein wird. Der Brief selbst enthält übrigens auch sonst einige starke Stücke z. B. die Behauptung, Ton und Richtung der Zeitung hätten mich immer mehr von der klaren, vornehmen Standpunkt entfernt, der der Augsburger Abendzeitung durch den unvergesslichen Karl Stolz aufgeprägt worden sei. Mit dieser Behauptung bewiesen die Herren nur, dass sie ihre eigene Zeitung gar nicht kannten oder, weil das gerade in ihr Konzept passte, nicht kennen wollten. Wäre ich doch in der Lage, durch reiches Material aus der Zeitung selbst unter Beweis zu stellen, dass Karl Stolz und ich unter seiner Leitung und Zustimmung früher noch ganz anders losgelegt haben, als das während des Krieges von mir und unter meiner Leitung geschehen ist. Der Ton der Zeitung war bei mir nicht anders als zu Stolzens Zeit, in der übrigens auch schon ich selbst seit etwa 1900 in nicht unbeträchtlichem Maße ihn angegeben habe. Die Richtung allerdings, die nebenbei bemerkt, mit Alldeutschtum nicht des Mindeste zu schaffen hatte, hat den Regierenden im Reiche und in Bayern nicht gepasst, aber das ist auch früher nicht selten der Fall gewesen, und dann war der Ton zu Stolzens Zeit auch nicht gerade sanft, wenn wir auch den Schimpfstil anderer beispielsweise der Zentrumsblätter uns nicht zu eigen machten, sondern bei aller Schärfe immer sachlich blieben.[31] Auch das von hetzerischem Ton in der Polemik gegen Bethmanns Politik keine Rede sein kann, lässt sich jederzeit ohne Weiteres beweisen abgesehen davon, dass allein schon die Zensur keinen hetzerischen Ton geduldet hätte. Ebenso unrichtig ist die Behauptung, dass dieser Ton bei einem großen Teil unserer Abonnenten vornehmlich in Offiziers- und Beamtenkreisen geradezu Unwillen erregt hätte. Wenn nicht etwa der Büchsenspanner des Grafen Hertling, Baron v. Stengel, das Paulchen, wie man ihn im intimen Kreise hieß, und der Oberstleutnant Falkner v. Sonnenberg, der getreue Zen-sur-Schildknappe Bethmanns, diese Offiziers- und Beamtenkreise repräsentiert haben sollten, so kann ich mich nicht erinnern, irgendwelche Zuschriften solcher Art erhalten zu haben. Und ich hätte sie erhalten müssen, da die gesamte Post der Zeitung zuerst durch meine Hände ging und gerade unsere Leserschaft durchaus nicht schüchtern und zurückhaltend mit ihrer Meinung war, wenn ihr etwas an ihrer Zeitung nicht passte. Dagegen erhielt ich aus dem Leserkreise und aus dem Felde von Offizieren und Mannschaften fast jeden Tag Zuschriften entgegengesetzter Art, die mir ihre Freude über die Haltung der Zeitung und ihre Zustimmung dazu ausdrückten. Einige Proben daraus habe ich ja bereits angeführt.

Richtig war, wie gesagt, der Kern des Aufsichtsratsbrief, der ganz klar und deutlich besagt, dass ich ein Opfer meiner Politik gegen Bethmann Hollweg geworden war. Und richtig war es auch, wenn der Aufsichtsrat davon sprach, dass die Richtung, die er anstrebe, nicht die sei, die meiner inneren Überzeugung entspreche. Was der Aufsichtsrat anstrebte, war nämlich nicht mehr und nicht weniger, als immer die Politik der jeweils Regierenden zu unterstützen, was ein aufrechter Redakteur mit seiner inneren Überzeugung freilich nicht vereinbaren kann. Mein Nachfolger konnte das, die Regierung hatte also den richtigen Mann für ihre und die Absichten des Aufsichtsrates ausgesucht. Sonst aber dürften sich die Dinge doch ein wenig anders abgespielt haben, als der verehrliche Aufsichtsrat das in seinem Briefe an mich darzustellen sich bemühte, indem die Herrschaften nämlich so taten, als ob alles nur ihrem eigenen Entschluss entsprungen wäre. Ich bin darüber einige Zeit nachher von einer Seite, die über den Hergang der Dinge informiert war, sehr genau ins Bild gesetzt worden. Die treibenden Faktoren waren die bayerische Regierung des Herrn Hertling und die bayerische Zensurstelle, auf die Reichskanzler und Reichskanzlei wieder ihren Druck ausübten. Ein sehr bekannter Abgeordneter, nämlich Dr. Heim, der Bauerndoktor, erzählte mir von einer Unterredung im bayerischen Ministerium des Äußeren, bei der den Bruckmanns heftig zugesetzt worden sei, sich meiner zu entledigen. Die Bruckmänner hätten zunächst nicht recht gezogen, da sie, wie sie meinten, eigentlich keinen Grund hätten. Ich hatte die Zeitung gut geleitet und vorwärts gebracht, außerdem wäre der Wechsel jetzt mitten im Kriege keine leichte Sache, da sie Niemand sähen, der mich ersetzen könnte. Da nun hätten die hilfreichen Herren der Regierung auf den Dr. Möhl hingewiesen, der damals als  ein brauchbares Werkzeug des Oberstleutnants v. Sonnenburg[32] in der Münchner Zensurstelle saß. Es ist einigermaßen auffällig, dass der Aufsichtsrat es für nötig hielt, in seinem Briefe so sehr zu betonen, dass er, der Aufsichtsrat, sich an Dr. Möhl gewandt und dieser auf die Aufforderung hin sich bereit erklärt hätte, die ihm angebotene Stellung anzunehmen. Dass sich das so abgespielt hat, ist schon deswegen nicht wahrscheinlich, weil Dr. Möhl zu der Zeit doch im Heeresdienst stand und mitten im Kriege sicher nicht so ohne Weiteres zur Annahme einer privaten Stellung freigegeben worden wäre. Da müsste schon bei der Regierung ein besonderes Interesse vorliegen, und deshalb ist die Version seines Gewährsmannes viel wahrscheinlicher: Regierung und Zensurstelle haben Herrn Dr. Möhl meinem Verlag auf dem Präsentierteller entgegengebracht, um dem Herrn v. Bethmann einen Gegner vom  Halse zu schaffen. Dass dem Kanzler an meiner Beseitigung viel gelegen sein musste, ist leicht verständlich. Denn durch meine Entfernung verlor der Volksausschuss zur Niederkämpfung Englands das einzige Sprachrohr zur Öffentlichkeit, das diesem in Süddeutschland bisher zur Verfügung gestanden hatte, und war damit mehr oder minder mattgesetzt.

Recht bezeichnend ist es auch, dass die so fromme und orthodoxe katholische Regierung Hertling als meinen Nachfolger einen Mann präsentierte, den sie unter anderen Umständen sicher aufs schärfste bekämpft haben würde. Herr Dr. Möhl war nämlich Monist, und die Monisten waren eine Vereinigung von Leuten, die wegen ihrer angeblich religionsfeindlichen Anschauungen bei der katholischen Kirche in sehr schlechten Geruch standen und von der Zentrumspresse sonst zu jener Zeit heftigen Angriffen ausgesetzt waren. In meinem Fall hat man um des höheren Zweckes willen wohl die Augen zugedrückt und den Zweck das Mittel heilen lassen.

Die Briefmarke als Druckmittel

Als sich die Bruckmänner noch immer besannen, da hatte man noch ein letztes, allerliebstes Druckmittel in Reserve. Die Mitteilung darüber stammt von einer Seite, die jeden Zweifel an der Richtigkeit von vorneherein ausschließt. Der Kunstverlag Bruckmann[33] druckte damals die bayerischen Briefmarken, was für die Firma ein nicht zu verachtendes Geschäft war. Und nun gab die feine, ach, so konservative und staatsgesinnte bayerische Regierung des ehemaligen Zentrumsführers und Philosophieprofessors v. Hertling der Firma zu verstehen, dass man die bayerischen Briefmarken nicht gerade unbedingt bei Bruckmann drucken lassen müsse. So etwas hat Gewicht und ließ die Waagschale zu meinen Ungunsten herabsinken. Der Abgeordnete und spätere Reichskanzler Stresemann, dem ich die Sache erzählte, als er gelegentlich der Anwesenheit bulgarischer Parlamentarier in München war, und der Abgeordnete Dr. Heim, die beide höchst entrüstet über die niedliche Geschichte waren, boten mir aus freien Stücken an, sie im deutschen Reichtag und im bayerischen Landtag zur Sprache zu bringen. Ich bat die Herren jedoch, das zu unterlassen, mit der Begründung, dass damit, wie die Dinge lägen, mir gar nichts nützen würde, ich im Gegenteil eher geschädigt werden könnte. Aus dem Leserkreise der München-Augsburger Abendzeitung und aus den Kreisen der politischen Freunde gingen mir, als meine Kaltstellung durch die Bethmann-Presse triumphierend verkündet wurde, wohltuende Beweise der Teilnahme und des Bedauerns in großer Menge zu. Ich führe nur aus einem dieser Briefe, dessen Verfasser Lehrer an einer höheren Schule war, einige besonders charakteristische Sätze an:

„Warum ich an Sie persönlich schreibe? Vor vierzehn Tagen hörte ich, und gestern bestätigte es mir Herr Dr. Philipp Funk[34], dass Sie am 1 Januar aus der Schriftleitung der München-Augsburger Abendzeitung ausscheiden. Ich bedauere dies auf das Tiefste und sicherlich viele Leser Ihres Blattes mit mir. Den Grund dieser Veränderung weiß ich nicht. Er geht mich als einfachen Leser und gelegentlichen Mitarbeiter nicht in erster Linie an. Sie werden es mir auch nicht sagen, denn zur Befriedigung der Neugier des Nächstbesten sind Sie nicht da. Unter Ihrer Leitung hat die M.A.A. im Kriege als einzige Münchner Zeitung eine aufrechte Sprache gefördert. Weil alle diese Parteiblätter wie Sozialdemokratie und Freisinn, aber auch das ganz abgefeimte Zentrum immer ihre Parteisuppe kochen, haben wir in Deutschland diese scheußlichen Zustände. Die Alldeutschen, denen ich übrigens nicht angehöre, werden verlästert, während man es bei den Feinden ganz natürlich findet, dass dort die Chauvinisten den Ton angeben.

Auf jeden Fall bedauere ich Ihr Ausscheiden. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass Ihre in letzter Zeit anscheinend stumpfer gewordene Feder an anderem Orte wieder schärfer schreibt zum Nutzen des Vaterlandes. Wie sich Ihre bisherige Zeitung, zu der ich seit vierzehn Jahren unter Stolzens und Ihrer bewährten Leistung hie und da bescheidene Beiträge zu leisten die Ehre hatte, aber entwickelt, das ist eine andere Frage.“

Ich war nach meiner Absägung als Chefredakteur noch ungefähr ein Jahr lang zu den mir in dem blauen Brief angebotenen Bedingungen als Redakteur an der München-Augsburger Abendzeitung tätig. Auf die politische Haltung der Zeitung hatte ich dabei keinen Einfluss mehr. Trotzdem hatte der Verlag den staunenswerten Mut, einem Geschäftsmann, der dem Volksausschusskreise angehörte und der früher Abonnent und Inserent unserer Zeitung gewesen war, unter dem 10. Februar 1917 den folgenden Brief zu schreiben:

„Auf unser Anzeigenangebot sandten Sie uns die Karte mit der Bemerkung zurück, dass die Haltung unserer Zeitung seit Rücktritt des Herrn Freund Ihnen nicht mehr gefällt und dass Sie seitdem nicht mehr inserieren noch abonnieren. Zur Richtigstellung möchten wir Ihnen höfl. mitteilen, dass unsere Zeitung keine andere Haltung als früher einnimmt und unser Herr Cajetan Freund nach wie vor den politischen Teil unserer Zeitung redigiert. Wir haben lediglich unsere Redaktion vergrößert und neu organisiert.“

Ist das nun ein Gipfel oder ist es keiner? Der Empfänger des Briefes leitete ihn voll Entrüstung umgehend und mit dem Vermerk „Ich habe entsprechend geantwortet“ an mich weiter. Ich war mir übrigens von vornherein darüber klar gewesen, dass mein nunmehriges Verhältnis zur Zeitung kein dauernder Zustand, sondern nur ein Übergang sein konnte. Dem neuen Chefredakteur, der politisch die tollsten Experimente machte und  von einem Extrem ins andere fiel, war ich ein unbequemer Beobachter, und dem Verlag scheint es bei den Versprechungen, die er mir in dem blauen Briefe machten, auch nicht sehr ernst gewesen zu sein. Offenbar wollte er damit nur eine schöne Geste machen in der stillen Hoffnung, dass ich selbst keine Lust haben würde. von seinem großzügigen Angebote Gebrauch zu machen. Da er sich in dieser Erwartung getäuscht sah, musste er, um mich los zu werden, selbst den Schritt tun, den er gerne mir zugeschoben hätte. Und so setzte man mir im Oktober 1917 den Stuhl vor die Tür!

Ein Brief, der ihn nicht erreichte

Ich kann es mir ersparen, über diese Dinge hier das Langen und Breiten zu erzählen, wenn ich den Wortlaut eines Briefes hierher setzte, der im Januar 1918 fix und fertig geschrieben und für Herrn A. v. Bruckmann bestimmt war, aber dann von mir nicht abgesandt wurde. Kollege Schiedt, der Chefredakteur der Münchener Zeitung, mit dem ich vertraulich darüber sprach, riet mir nämlich davon ab und zwar weil, wie er richtig sagte, ich mit diesem Briefe den Bruckmännern nur genützt haben würde, wozu ich keine Veranlassung hätte. Dieser Brief also, der den Adressaten nicht erreicht hat, hatte den folgenden Wortlaut:

München, Januar 1918
Sehr verehrter Herr v. Bruckmann!
Nachdem mir auf gewisse Einflüsse hin, die ich genau kenne und über die zu gegebener Zeit vielleicht noch Einiges zu reden sein wird – mehrere hervorragende Abgeordnete des Reichtages und des Landtages interessieren sich sehr für diese Sache und haben mir aus freien Stücken, ohne dass ich einen Finger dazu gerührt, angeboten, sie in den Parlamenten in geeigneter Weise zur Sprache zu bringen – die Leitung der Zeitung abgenommen und dem dafür präsentierten Mann übertragen worden war, war es bereits beschlossene Sache, sich meiner überhaupt zu entledigen. Die Tatsache, dass das Unternehmen der M.A.A. immerhin 21 Jahre lang mich hatte gebrauchen und meine beste Lebenskraft hatte in Anspruch nehmen können, mochte wohl zusammen mit dem ziemlich beträchtlichen Staub, den die Sache Dank ihrer hervorragend geschickten Lancierung in die Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt durch meine politischen Gegner ohnehin schon aufgewirbelt hatte, zunächst noch einige Bedenken bestehen lassen, diesen äußersten Schritt sofort zu tun. Auch trug man sich etwa mit der stillen Hoffnung, dass ich selbst dem Verlag die Initiative zu meinem Ausscheiden und so auch das damit verbundene Odium abnehmen würde. Über diese Sachlage war ich mir trotz schöner Reden und Schreiben, die, das, kann ich Ihnen versichern, von mir stets nach ihrem wahren Werte eingeschätzt wurden, keinen Augenblick im Unklaren. Aber ich hatte nicht den mindesten Grund, die so überaus uneigennützige Erwartung des Verlages und die ebenso kollegiale Hoffnung des Herrn Hauptschriftleiters seinerseits zu erfüllen.

So musste denn eines schönen Tages der Herr Hauptschriftleiter der peinlichen Aufgabe sich unterziehen, den schwerhörigen Kollegen an die Luft zu setzen, den in schmalzigen Phrasen schriftlich und mündlich als Freund und Mitarbeiter bei dem ihm Kraft eigener Phantasie obliegenden Rettungswerk an der angeblich schwer gefährdeten M.A.A. willkommen zu heißen, er vor noch nicht Jahresfrist sich gar nicht genug tun konnte, obwohl er jedenfalls schon damals genau wusste, was kommen werde. Die Aufgabe war umso unangenehmer, als sie möglichst schmerzlos gelöst werden sollte, schmerzlos nicht für den Hinauszuwerfenden selbstredend – das zeigte schon die gelegentlich im Setzersaal vor mindestens einem Dutzend Ohren gemachte, überaus kollegiale, gemüt- und taktvolle Bemerkung (des Herrn Hauptschriftleiters): „Der Freund hat schon seinen Laufpass“ – es handelte sich vielmehr darum, dass die feine Prozedur so schmerzlos wie möglich für die Hinauswerfenden verlief, die in Anbetracht mancher nun einmal nicht aus der Welt zu schaffender Begleitumstände doch eines gewissen unbehaglichen Gefühls  sich nicht erwehren konnten. Wenn z. B., um von anderem nicht zu reden der Verlag im Februar 1917 in einem Schreiben an einen Inserenten – und vermutlich nicht nur an einen –, der erklärt hatte, dass er wegen der seit meinem Rücktritt von der Leitung veränderten Haltung des Blattes nicht mehr interessiere und abonniere, ausführt, „dass unsere Zeitung keine andere Haltung als früher einnimmt und unser Herr Cajetan Freund nach wie vor den politischen Teil unserer Zeitung redigiert. Wir haben lediglich unsere Redaktion vergrößert und neu organisiert.“, ist das, gelinde gesagt, ein sehr starkes Stück, das im Verein mit Sonstigem, was sich vor, bei und nach meiner Absägung zugetragen, das besagte unbehagliche Gefühl erklärlich und begründet erscheinen lässt.

Natürlich spielte bei dem ganzen Vorgang – ich zweifle nicht im Geringsten daran – auch mein „hohes“ Gehalt eine nicht unerhebliche Rolle. Für die zarte Rücksichtnahme, dass man mein Gehalt nicht kürzen, sondern mich lieber gleich auf’s Pflaster setzen wollte, bin ich ungemein dankbar. Diese Feinfühligkeit hat mich beinahe zu Tränen gerührt und hat den Gedanken, auf den ein böser Mensch bei solcher logisch einigermaßen gewagter Motivierung kommen konnte, den Gedanken nämlich, es hätte die Absicht, meine Mitarbeit des Blattes zu erhalten, wie sie schriftlich und mündlich auch von dem Herrn Vorsitzenden des Aufsichtsrates im Brustton tiefsten Ernstes wiederholt versichert werde, seit meinem Ausscheiden aus der Leitung der Zeitung überhaupt niemals bestanden, naturgemäß meilenweit aus meinem Gesichtskreise entrückt. Wäre ich empfindlich, so könnte ich das Maß von Naivität und Begriffsstutzigkeit, dass diese Art von Einschätzung bei mir voraussetzt, als beleidigend empfinden.

Also – auch das „hohe“ Gehalt war nicht Grundursache, sondern nur willkommenes Mittel zum Zweck. Ebenso wie der primär in’s Treffen geführte Grund der notwendigen „Anstellung einer besonders qualifizierten Kraft, die nicht nur im innern Dienst und in der politischen Leitung, sondern auch in literarischer und künstlerischer Beziehung befähigt sein muss, den  Hauptschriftleiter zu vertreten und in der Leitung einer großen modernen Zeitung zu unterstützen“. Ich weiß, woher dieser Wind weht und was er bringen wird. Billiger wird die Sache auf diese Weise nicht werden – schon das Ergebnis des Jahres 1917 wird das die Herren lehren – und ob sie besser wird, das kann nun in größter Ruhe abwarten. Ich bin überzeugt und vertraue darauf, dass die Zeit kommt, die meine ehrliche Arbeit und meine redliche Absichten in jeder Beziehung rechtfertigen wird. Leidtragend wird die Firma Bruckmann sein aber nicht unverdient.

Der ganz momentane äußere Erfolg der Zeitung, soweit man von einem solchen sprechen kann, beruht ja nicht etwa auf der Tätigkeit des Herrn Hauptschriftleiters, sondern einzig und allein auf der produktiven und informatorischen Mitarbeit des Herrn Jurinek, und in dem Augenblick, in dem diese aufhören wird, ist es auch mit der ganzen jetzigen Herrlichkeit der M.A.A zu Ende. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass nicht etwa der neue Herr Hauptschriftleiter es war, der diesen Mann herangezogen hat, sondern dass ich es gewesen bin und zwar unter dem heftigen Widerstand nicht nur der ganzen Münchner Journalistenwelt, sondern auch des eigenen Aufsichtsrates. Dabei hat der Mann aber unter meiner Leitung lange nicht in dem Maße die ganze Zeitung beherrscht, wie dies jetzt der Fall ist, weil ich mir sehr wohl der Gefahr bewusst war, die darin liegt. Drei Viertel aller Leitartikel und alle Informationen von einiger Bedeutung sind heute von Herrn Jurinek. Das vierte Viertel der Leitartikel ist, wenn ich von dem nachgerade unmöglich gewordenen Herrn Endres (auch das habe ich vorausgesagt, als der Mann seinerzeit auf Drängen von Herrn Hugo Bruckmann fast engagiert wurde) absehe, aus Büchern, Zeitschriften, amtlichen Korrespondenzen etc. entnommen und zur pompösen Anschein von Originalartikeln bis nahe an die Grenze des journalistischen Zulässigen aufgeputzt. Das Letztere zu besorgen ist die positive Arbeit des Herrn Hauptschriftleiters und zwar so ziemlich die ganze Arbeit. Die nachträgliche, zuweilen sehr ungnädige, um nicht zu sagen unhöfliche Kritik an den Arbeiten der anderen Herren, wenn diese zufällig einmal nicht genau vorausahnen, wie die M.N.N. es zu machen belieben – die M.N.N. sind jetzt das allein maßgebende Muster zur sklavischen Nachahmung für die M.A.A. geworden – kann man wohl nicht als Arbeit, geschweige denn als positive Arbeit bezeichnen.

Doch ich kehre zum Ausgangspunkt dieser Betrachtung zurück. Herr Jurinek, gegen den zu meiner Zeit verschiedene Herren des Aufsichtsrates in ätzender, auch mir das Leben und das Arbeiten sauermachender Kritik sich nicht genug tun konnten, beherrscht heute mehr denn je die ganze Zeitung offenbar unter Zustimmung derselben Herren Aufsichtsräte. Aber das ist nicht die einzige Inkonsequenz. Die Politik, wegen der ich verbrannt werden musste, wird heute angebetet. Eine Zeit lang glaubte man in der Sorge um das Abonnement, der Forderung eines großen Teils der Leser dadurch Genüge zu tun, dass man Vormittags einen Leitartikel für die Vaterlandspartei und Nachmittags mit Rücksicht auf die anderen Leser einen für das Gegenteil brachte. Jetzt ist man von dieser schönen Praxis, zumal oben der Wind wieder einmal umgeschlagen hat, abgekommen und bringt in der Hauptsache nur noch Artikel der Vaterlandspartei von einer Schärfe, wie ich sie nie zu bringen wagte. Was aber natürlich nicht hindert, dass wir in vierzehn Tagen vielleicht wieder das Gegenteil verfechten werden. Ganz nach dem früheren Muster der M.N.N.

Für solche Chamäleonpolitik war ich allerdings nicht der geeignete Mann, und wenn Sie sich davon die ewige Seligkeit für die M.A.A. versprechen, dann haben Sie gut daran getan, den Mann, der jetzt die Politik der M.A.A. aus dem Gesichtsfelde des Lokalredakteurs der M.N.N. heraus „macht“, an meine Stelle zu setzen und zu seiner Unterstützung und Vertretung einen künstlerisch und literarisch angehauchten Herrn zu bestellen, der dann gleich seinem Herrn und Meister die Politik in dem etwas  leichter geschürzten und wandelbaren Feuilletonstil betreiben kann. Das politische Ansehen der Zeitung wird da natürlich bald in ungeahnte Höhen emporwachsen. Wenn das der selige Stolz noch erlebt hätte, auf dessen vorbildliche Tätigkeit und politischen Takt ja gerade Sie, verehrter Herr v. Bruckmann, immer so gerne hingewiesen haben! Was glauben Sie wohl, dass er zur heutigen Politik der Abendzeitung sagen würde, in der wie beim Aprilwetter nur der Wechsel das Beständige ist? Auch für die Politik der Zeitung, nicht nur für die der Staatsmänner, dürfte Bismarcks Wort gelten: „Jede Politik halte ich für besser als eine schwankende.“

Der alte Stolz aber würde sich jedenfalls sehr energisch dagegen verwahren, von dem Herrn, der für solche Politik sich als verantwortlich hergibt, als „Freund“ reklamiert zu werden, weil dieser Herr zufällig einmal in seinem Leben ein paar Stunden in einer römischen Osteria mit ihm zusammen saß. Und die Verwahrung würde umso energischer ausfallen, wenn er wüsste, dass diesen selben Herrn mir in seiner berühmten Antrittsrede als Hauptschriftleiter dergestalt konstruierte Freundschaft nicht abgehalten hat, bald darauf das Werk seines „Freundes“, die Stolzsche Abendzeitung, als einen Misthaufen zu beschimpfen. Eines hatte der Stolzsche Misthaufen, wenn es einer war, vor dem seines zweiten Nachfolgers auf alle Fälle voraus: Er roch besser. Und sicher ist, dass, so wie ich Stolz kannte, der ein ausgesprochener Charakter und eine selbständige geistige Potenz war, welche auch ohne berühmte Muster und Vorbilder ihren Weg zu finden wusste, der Lokalredakteur der M.N.N. keine siebzehn Jahre, ja nicht eines, wenn er überhaupt in der Lage gekommen wäre, mit ihm zusammen Politik gemacht hätte. Dafür hätte Stolz gesorgt, und der Herr hätte seinen „Freund“ von der römischen Osteria da von einer ganz anderen Seite kennen gelernt, die ihm bestimmt auch seine Freundschaft sehr viel weniger wertvoll und wünschenswert hätte erscheinen lassen.

Noch Manches ließe sich über die für die Geschichte des bayerischen Pressewesens und insonderheit des bayerischen Verlegertums nicht übermäßig ruhmreiche Angelegenheit meiner Entfernung aus der Hauptschriftleitung und der Schriftleitung der M.A.A. sagen. Für heute möchte ich es bei dem Gesagten bewenden lassen, von dem ich hoffe, dass es als Kundgabe eines Mannes, der durch nichts behindert ist, die Wahrheit zu sagen, und sie auch sagen will, wenn auch ihm selbst nicht mehr, so doch vielleicht anderen nützen möge. Ich kann bei dem Verlag Bruckmann nach der Art und Weise, wie er mit mir gleich einem Ausgeher umgesprungen ist, kaum ein Verständnis dafür voraussetzen, dass mir das Scheiden aus dem Hause der M.A.A. trotz allem, was man mir hier angetan hat, nicht leicht wird. Ich bin ein so vorsintflutlicher Mensch, dass ich eine Zeitungsredaktion nicht auf eine Stufe stellen kann mit einer x-beliebigen Schuster- oder Schneiderwerkstatt, die einem nichts weiter ist als Brot- und Arbeitsstätte. Mehr als mein halbes Leben und dessen besten Teil, mein ganzes Herz und meine volle geistige und körperliche Kraft habe ich der Abendzeitung gewidmet und wahrhaftig nicht bloß des Broterwerbes und der fürstlichen Entlohnung wegen! Den Broterwerb hätte ich anderswo mindestens gut und vielleicht mit weniger bitteren Erfahrungen verknüpft gefunden, und was die Entlohnung anlangt, so hat die geleistete Arbeit ihr jedenfalls mehr als entsprochen. Aber davon haben sie ja keine Ahnung und können keine haben, weil Sie immer nur vom Hörensagen durch andere Leute, die nicht immer das Interesse haben, die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit und nur die Wahrheit, von dem unterrichtet werden, was in Ihrem Betriebe vorgeht, und weil Sie Ihr Vertrauen nur allzu oft solchen schenken, die es zwar weniger verdienen, aber sich besser darauf verstehen als andere, Ihnen das Unmögliche möglich und alles immer in dem Lichte erscheinen zu lassen, in dem Sie es gerne sehen möchten, auch wenn das nicht in Ihrem Interesse liegt.

Sie werden dieses Schreiben vielleicht als den Ausfluss der begreiflichen Stimmung  eines verärgerten Menschen ansehen, und ich kann Sie natürlich nicht hindern, das zu tun. Ich versichere Ihnen aber, dass es mir keineswegs bloß darum zu tun war, solcher Stimmung Luft zu machen, sondern dass es mein lebhafter Wunsch ist, der Inhalt dieses Schreibens möchte dazu dienen, Sie zum Nachdenken und zur Überlegung zu veranlassen. Im Interesse der M.A.A., für die wohl sehr bald Zeiten kommen werden, welche viel Nachdenken und Überlegung erfordern könnte.
Mit freundlicher Hochachtung
…..

Die Zeiten, die für die München-Augsburger Abendzeitung viel Nachdenken und Überlegung erforderten, kamen noch viel schneller, als ich selbst damals dachte. Die Bruckmänner haben durch raschen Verkauf der Zeitung gerade noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen vermocht, wenn auch nicht ohne beträchtlich Haare dabei zu lassen[35].

In einem gewissen Gegensatz zu dem, was die bayerische Regierung des Grafen Hertling und die preußisch-deutsche taten, scheint die Tatsache zu stehen, dass mir während der vier Kriegsjahre verschiedene Orden und Ehrenzeichen verliehen wurden. Zuerst das König Ludwigkreuz, von Ludwig III. gestiftet für Kriegsverdienste in der Heimat, dann das preußische Kriegsverdienstkreuz und im Jahre 1918 der Michaelsorden IV. Klasse. Die Sache erklärt sich aber leicht dadurch, dass die Verleihung der beiden ersten Auszeichnungen verhältnismäßig früh erfolgte, als ich nach oben noch nicht in einen so besonders schlechten Geruch geraten war, den Michaelsorden dagegen erhielt ich unter einer Regierung, deren Chef (Dandl) mir persönlich wohlgesinnt war und im Übrigen zu einer Zeit, da Bethmann Hollweg längst in der Versenkung verschwunden war. Die mir wertvollste Auszeichnung war, nebenbei bemerkt, das besondere goldene Hochzeitsabzeichen des bayerischen Königspaares, das der König 1918 zum 50. Gedenktag seiner Vermählung einem beschränkten Kreis von etwa 250 Personen persönlich überreichte, wobei er mit jedem der Ausgezeichneten einige Minuten sprach, so dass der Verleihungsakt ungefähr sechs Stunden sich hinzog. Dass alle diese Auszeichnungen zweifellos in erster Linie mir in meiner Eigenschaft als Vorsitzendem des Landesverbandes der Bayerischen Presse galten, ist ein Umstand, der für die Beurteilung der ganzen Angelegenheit nicht unwesentlich ins Gewicht fallen dürfte.

[1] Über diese Vereinigung war vorerst nichts vertiefendes zu finden (Hrsg., 17.1.2016)

[2] Gemeint ist wahrscheinlich Gottlieb von Jagow

[3] Die „Kölnische“ meint vermutlich die Verhandlungen um die Bildung einer Kolonie „Deutsch-Mittelafrika“ siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Mittelafrika

[4] Jules-Martin Cambon

[5] Hier zweite Marokko-Krise, siehe auch erste Marokko Krise

[6] Geht zurück auf die Politik des Eduard II und besonders Eduard III, tiefer Rückgriff in die englisch-französische Geschichte des 13./14.Jh. https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_III._%28England%29 und https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_II._%28England%29

[7] Die Versuche die deutsche „Unschuld“ rspektive „Schuld“ zu „beweisen“ waren und sind zahlreich, siehe dazu u.a. C. Clark, Die Schlafwandler, DVA. C. relativiert in seinem Buch die „deutsche Alleinschuld“ am Krieg. A.S. Jerussalimski, Der deutsche Imperialismus, 1968, Dietz Verlag Berlin. J. setzt widmet den diversen „Farbbüchern“ der kriegsbeteiligten Nationen ein ausführliches Kapitel.

[8] Lat. „Das Wohl des Volkes sei das höchste Gesetz“

[9] Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston ist gemeint

[10] Georg Hamilton-Gordon, 4. Earl of Aberdeen ist gemeint

[11] William Ewart Gladstone ist gemeint

[12] Gemeint ist Émile Vandervelde

[13] Gemeint ist Charles de Broqueville

[14] Vermutlich ist Theodor Wolff gemeint, u.a. Chefredakteur des Berliner Tagblatt und Namensgeber des gleichnamigen Preises des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger

[15] Gemeint ist Karl Max von Lichnowsky

[16] Die Farbbücher waren Propagandaschriften der verschiedenen kriegführenden Nationen

[17] Zum Hintergrund die Presseschau der Vossischen Zeitung am folgenden Tag (siehe Staatsbibliothek Berlin http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/dfg-viewer/?set[image]=3&set[zoom]=max&set[debug]=0&set[double]=0&set[mets]=http%3A%2F%2Fzefys.staatsbibliothek-berlin.de%2Foai%2F%3Ftx_zefysoai_pi1%255Bidentifier%255D%3D910f2258-6392-4bd7-8b2c-b040d277a475 )

[18] Liszt, Franz von. Mit seiner Forderung nach einem „Mitteleuropäischen Staatenbund“ (den er allerdings ohne England, bzw. zum Schutze vor England und Russland meinte), könnte man Liszt einen frühen Vordenker für eine EU nennen.

[19] Delbrück, Hans Gottlieb Leopold

[20] Vermutlich gemeint Monts, Anton Graf von (https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Graf_von_Monts)

[21] 1914 gegründet, die zu ihrer Zeit wohl bedeutendste pazifistische Organisation in der sich u.a. Albert Einstein engagierte

[22] Unklar, welcher Heydebrand gemeint ist. Ernst von Heydebrand und der Lasa (Politiker und Chef der Deutschkonservativen Partei) wahrscheinlich, oder Wilhelm von Heydebrand und der Lasa, der jedoch bereits 1908 verstorben war, also als aktiver Zeitgenosse nicht in Frage kommt).

[23] Gründer Heinrich Claß in einem unveröffentlicht gebliebenen Flugblatt im Juli 1911: „Die Erfahrung die Preußen beim Landerwerb polnischen Landes und Nordschleswigs gemacht hat, verlangen, dass mit dem Grundsatz gebrochen wird, die ansässige Bevölkerung im abgetretenen Lande zu belassen; wir brauchen Land für unsere Deutschen, aber keinen Zuwachs übelwollender Fremdsprachiger …“ mit dem HC begründete, weshalb die Marokko-Krise kein Anlass sei, gegenüber Frankreich und England nach zu geben und ein Krieg gegen Frankreich im Falle eines Sieges nützliche Gebietsgewinne verheiße. (zit. nach Thomas Friedrich Hrsg., Das Lesebuch vom Krieg, Litpol Verlag 3882790261, 1982).

[24] Ballin, Albert, Hamburger Reeder, machte HAPAG zur größten Schifffahrtslinie der Welt. Ballin verstarb 1918. Ballin war eine der bedeutendsten jüdischen Unternehmer seiner Zeit. Ein Artikel in der „Zeit“ vom August 2014 würdigt Ballin mit den Worten: „Ausgerechnet Ballin, der britischen Konkurrenten mehr Marktanteile abgenommen hatte als irgendjemand sonst, war „in London zuhause“ und mit britischen Staatsmännern befreundet. Er wünschte sich zwischen beiden Ländern ein Verhältnis, wie es die Handelsschifffahrt dank seines diplomatischen Geschicks bereits erreicht hatte: scharfer Wettbewerb ja, aber fair, und im Konfliktfall Verhandlungen statt Krieg. In vernünftigen Verhandlungen ließen sich auch die schwierigsten Fragen lösen.“

[25] Reederverein

[26] Abk. f. Generalkommando

[27] Muss wohl heißen oder gemeint ist, zu „unterlassen“

[28] Abk. f. „Seine Majestät“

[29] Bayerischer Reichsrat, geb. 1880, gefallen 1918

[30] Möhl, Friedrich Karl, übernahm 1918 die Chefredaktion. 1920 übernahm Hugenberg die Zeitung. Chefredakteur wurde Julius Friedrich Lehmann, Verleger völkisch-rassistischer Literatur und das Blatt wurde schon früh auf NS – Kurs gebracht. 1930 unterstützte das Blatt die NSDAP und wurde nach massivem Auflageneinbruch 1934 eingestellt.

[31] In der Ägide Stolz veröffentlichten etwa Berthold Brecht und Oskar Maria Graf in der Augsburger Abendzeitung. Die scharfen Auseinandersetzung mit dem dogmatisch-politischen Katholizismus seiner Zeit in dem Blatt (siehe Bd. 1, von CF) geben einen Hinweis darauf, dass man sich einem bürgerlich-konservativem Liberalismus verschrieben hatte.

[32] Gemeint ist Sonnenburg, Alfons Falkner von,

[33] Der seinen Sitz auch heute noch in München hat (https://de.wikipedia.org/wiki/Bruckmann_Verlag )

[34] Vermutlich Funk, Philipp (https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Funk )

[35] Verkauf des Blattes an den Hugenberg-Konzern