1926 – Journalismus und Justiz

In diesem Kapitel beschreibt CF eine gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Kriminalpsychologen Dr. Hans von Hentig. Dieser sah sich beleidigt durch einen Artikel in der Münchner Zeitung vom 29.3.1926. Darin wird über den Hochverratsprozess gegen Hentig berichtet, der zu den führenden Mitgliedern der militärischen Organisation der KPD in Mitteldeutschland gehörte und nach dem gescheiterten Hamburger Aufstand in das Ausland geflüchtet war.
Außerdem berichtet der Autor über eine weitere Klage gegen die Zeitung durch ein Unternehmen, welches seine Waren in Deutschland als „deutsche“ anpries, im Ausland hingegen so so tat als sei es eben kein deutsches Erzeugnis. CF fand dies „unpatriotisch“. Der Richter unterstellte in seiner Urteilsbegründung für eine Unterlassung Bestechung.
Und last but not least berichtet CF, wie er bei einer Bahnfahrt von Wien aus, im Zug fast beraubt worden wäre.

Im Original beginnt der Abschnitt mit der Überschrift (BD-II-376-385)

Der Prozess Hentig

Das ist ein in jeder Hinsicht merkwürdiger Prozess gewesen. Privatbeklagter war ich selbst. Es war übrigens das einzige Mal, dass ich wegen einer Beleidigung durch die Presse auf die Anklagebank musste. Der Kläger, der Mann, der sich durch mich d. h. durch einen Artikel in der Münchener Zeitung, den ich zu verantworten hatte, beleidigt fühlte, war der Kriminalpsychologe Dr. v. Hentig. Was er mit dieser Beleidigungsklage für eine Bewandtnis hatte, ist am besten aus dem inkriminierten Artikel selbst zu ersehen, der daher hier im Wortlaut folgen mag. Er stand in Nr. 87 der Münchener Zeitung vom 29. 3. 1926 und besagte:

Hentig und der Staatsgerichtshof

Aus Leipzig wird uns von unterrichteter Seite geschrieben:

„Die von München aus verbreitete Nachricht über ein Verfahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat gegen den flüchtigen Dr. Hans v. Hentig bedarf in wesentlichen, ausschlaggebenden Punkten der Richtigstellung und Ergänzung: Dr. Hans v. Hentig lebte in München und beschäftigte sich mit Kriminalpsychologie. Er entstammt einer coburgischen Familie, sein Vater war herzoglicher Minister, Jurist, auch schriftstellerisch bekannt, und wurde vom Herzog von Coburg in den Adelsstand erhoben. Der Großvater war Volksschullehrer gewesen. Einer seiner Brüder, Werner Otto v. Hentig, ist auch in weiteren Kreisen während des Weltkrieges bekannt geworden durch sein Ullsteinbuch „Meine Diplomatenfahrt in’s verschlossene Land“. Ein zweiter Bruder war Gardepionieroffizier und heiratete nach dem Kriege eine Tochter eines der ersten Berliner Banken-Direktoren. Dr. v. Hentig entstammt also Kreisen, in denen der Kommunismus nicht gerade zu Hause zu sein pflegte.

Umso eigenartiger ist es, dass Dr. v. Hentig, der während des Weltkrieges als Hauptmann d. R. an der Front im Orient war, jetzt beschuldigt wird, im Herbst des Jahres 1923 den militärischen Dienst der kommunistischen Partei[1] in Mitteldeutschland mitorganisiert zu haben. Nach dem Misslingen des Hamburger Aufstandes hat Herr v. Hentig Deutschland verlassen und hielt sich seitdem im Auslande auf, um der ihm drohenden Verhaftung zu entgehen. Angeblich hat v. Hentig die erwähnte Militärorganisation der KPD einzig und allein zur Abwehr des Beabsichtigten Vormarsches der Rechtsorganisationen von München her nach Berlin eingerichtet. Dieser Behauptung steht indessen die Tatsache entgegen, dass der Aufstand der Hamburger Kommunisten am 23. Oktober 1923 begonnen hat, ohne dass vorher Putschversuche von der rechten Seite her stattgefunden haben, denn der Münchener Ludendorff-Hitler-Putsch fand erst später, der Küstriner Versuch viele Monate nachher statt. In den unzähligen bei den zahlreichen Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof z. d. R. zur Verlesung gelangten Dokumenten der Zentrale der KPD an die untergeordneten Stellen (Instruktionen, Verordnungen, Mobilmachungsbefehle und Vorbereitungen) ist nie von Abwehr die Rede, lediglich von Vorbereitung und Angriff.[2] Freilich haben sich die kommunistischen Angeklagten und ihre Verteidiger vor noch gar nicht langer Zeit diesen Abwehrgedanken zunutze gemacht, allerdings nie während der Voruntersuchung. Trotz der Unwahrscheinlichkeit des Abwehrgedankens hat der Staatsgerichtshof in allen seinen Entscheidungen und Urteilsbegründungen – entgegen anderslautenden Zeitungsmeldungen – angenommen, dass die Arbeiterschaft sich damals durch eine bestehende Gefahr von Rechts bedroht fühlen konnte.

Die weitere Nachricht, wonach das Reichsjustizministerium die Hauptverhandlung gegen Dr. v. Hentig unverzüglich angeordnet haben soll, kann unmöglich stimmen, denn das Reichsjustizministerium ist lediglich Verwaltungsbehörde, daher nicht befugt, in ein schwebendes Gerichtsverfahren einzugreifen. Vielmehr ist Tatsache: das Untersuchungsverfahren durch die Reichsanwaltschaft ist schon vor längerer Zeit abgeschlossen, vor kurzem aber ist insofern eine Änderung eingetreten, als der Staatsgerichtshof zum Schutz des Reiches auf Antrag der Reichsanwaltschaft Dr. v. Hentig freies Geleit zugesichert hat für den Fall seines Erscheinens an Gerichtsstatt. Diese Zusage konnte wohl umso unbedenklicher erfolgen, als in der Zwischenzeit das Amnestiegesetz für politische Vergehen in Kraft getreten ist und für Herrn Dr. v. Hentig aller Wahrscheinlichkeit nach wird in Anwendung kommen müssen, weil die zur Anklage stehenden Straftaten zeitlich und voraussichtlich auch die zu erwartende Strafe unter die Bestimmungen dieses Amnestiegesetzes fallen werden. Zu einem Verfahren vor dem Staatsgerichtshof wird es voraussichtlich nicht kommen, da dieser einzige souveräne Gerichtshof aller Wahrscheinlichkeit nach mit Märzschluss in Strafsachen nicht mehr tätig sein, sondern lediglich nur noch in Verwaltungssachen weiterarbeiten wird (Entscheidung von Beschwerden über Beschlagnahmen von politischen Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Beschwerden gegen das Verbot politischer Versammlungen, Aufzüge etc.). Die nach diesem Zeitpunkt von der Anklage als Hochverrat bezeichneten Straftaten werden dann in Zukunft wie früher erstinstanzlich, also ohne Berufungsmöglichkeit sofort dem 4. Strafsenat des Reichsgerichtes zur Aburteilung überwiesen, während die übrigen Vergehen gegen das Republikschutzgesetz und sonstige politische Verfehlungen den örtlichen Schöffengerichten (unter Hinzuziehung eines zweiten Richters) überwiesen werden, gegen deren Urteile allerdings dann eine Berufung möglich ist.

Ob es überhaupt zu einer Verhandlung gegen Dr. v. Hentig kommen wird, steht keineswegs fest, denn es gibt immerhin die gesetzmäßige Möglichkeit, dass nach Anhörung des erschienenen Angeklagten durch den Untersuchungsrichter die Amnestie schon durch ein einfaches Beschlussverfahren in Kraft tritt.

Von einer Herrn v. Hentig nahestehenden Seite wird uns bestätigt, dass ihm freies Geleit zugesichert wurde und dass er infolgedessen wieder nach Deutschland zurückkehren wird, und es wird uns weiter mitgeteilt, dass er München, wo er seit vierzehn Jahren wohnt, dauernd zu verlassen und sich an einer außerbayerischen Universität niederzulassen gedenke. Die Stellung als Herausgeber der Arbeiten der bayerischen kriminalbiologischen Sammelstelle, die er mit Obermedizinalrat Dr. Viernstein (Straubing) teilte, hat er bereits seit einiger Zeit niedergelegt, eine Position, die rein privatwissenschaftlicher Art war. Seit Anfang des Jahres gibt Hentig gemeinsam mit Professor Aschaffenburg (Köln) die Monatsschrift für Kriminalpsychologie[3] heraus. Kürzlich hat die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ihm einen Beitrag von mehreren Tausend Mark für Erdbebenstudien in Japan und auf den malaiischen Inseln bewilligt.“

Der unbefangene Leser dieses Artikels wird darin vergebens nach einer Beleidigung, es sei denn, dass erweislich wahre Tatsachen als Beleidigung angesehen werden können. Aber es kommt zuweilen vor, dass solche erweislich wahre Tatsachen, nachdem ein Zeitraum von nahezu drei Jahren verflossen, seitdem sie Tatsachen geworden, dem, den sie angehen, inzwischen unangenehm und unbequem geworden sind. Das war auch hier der Fall. Herr v. Hentig konnte zwar die Tatsachen selbst nicht bestreiten, aber da ihm diese Tatsache jetzt hinderlich waren in der Verfolgung gewisser materieller Interessen – er strebte ja einen Lehrstuhl an einer Hochschule an –, so konstruierten aber seine Anwälte eine Beleidigung, womit vor allem bezweckt werden sollte, dem Herrn v. Hentig im Rahmen dieses Prozesses die Möglichkeit einer Art von Rehabilitierung gegenüber dem Verfahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu bieten, das beim Reichsgericht gegen ihn anhängig war, aber infolge einer inzwischen wieder einmal erfolgten Amnestie nicht zur Durchführung gelangt war.

Zu der Zeit, als Hentig die Klage gegen mich anstrengte, war die Entscheidung darüber, wie aus dem Artikel ersichtlich ist, noch gar nicht erfolgt. Der Artikel war von mir einer Leipziger Korrespondenz entnommen worden, deren Herausgeber mir als absolut zuverlässig und wohlunterrichtet namentlich in Staatsgerichtshofs-Angelegenheiten bekannt war. Herr v. Hentig hielt aber im Prozess lange und hartnäckig die Behauptung aufrecht, dass ich selbst der Verfasser des Artikels wäre und dass ich meine Eigenschaft als Laienrichter am Staatsgerichtshof dazu missbraucht hätte, eine Beleidigung, die eigentlich viel schwerer war als die, die ich Herrn v. Hentig seiner Behauptung nach zugefügt haben sollte. Denn ich war in der Lage, an Hand des Manuskriptes, in dem ich selbst handschriftliche Korrekturen vorgenommen hatte, zu beweisen, dass ich nicht der Verfasser war. Herr v. Hentig ging aber noch weiter. Er behauptete, dass ich den gleichen bzw. einen ähnlichen Artikel auch in die Kölnische Zeitung lanciert hätte, während in Wirklichkeit die Kölnische Zeitung den Artikel ebenso wie ich von der Leipziger Korrespondenz erhalten hatte. Ich hatte von der Tatsache, dass die Kölnische Zeitung diesen Artikel ebenfalls gebracht hatte, vor dem Prozess überhaupt keine Ahnung ebenso wenig wie ich wusste, dass Herr v. Hentig ausgerechnet an der Kölner Universität sich als Dozent niederlassen wollte. Umso seltsamer war es, dass Herr v. Hentig nicht oder wenigstens nicht auch die Kölnische Zeitung verklagt hatte, sondern dafür von mir auch noch einen Schadenersatz von 5000 Mark forderte. Den Schaden hatte ich ihm, behauptete er, durch meinen Artikel zugefügt, da natürlich, wie er selbst sagte, keine deutsche Universität einen Dozenten haben wollte, gegen den ein Hochverratsverfahren schwebte. Das war jedoch nicht etwa eine Erfindung von mir, sondern eine erweislich wahre, vom Kläger weder bestritten noch bestreitbare Tatsache. Dass in dieser Sache die Kölnische Zeitung im Vordergrunde stand und nicht die Münchener Zeitung lag eigentlich auf der Hand. Mit seiner Behauptung, ich hätte den Artikel in der Kölnischen Zeitung veranlasst fiel Hentig auch von vornherein durch.

Das zunächst zuständige Amtsgericht (Richter: Amtsgerichtsdirektor Frank) sah keine Notwendigkeit, dem Herrn v. Hentig auf dem Wege des Beleidigungsprozesses zur Erreichung seiner Nebenzwecke – oder vielleicht war es auch der Hauptzweck – behilflich zu sein, und wies durch einfachen Beschluss die Klage zurück. Dagegen erhob Herr v. Hentig Beschwerde zum Landgericht München I, dessen 3. Strafkammer der Beschwerde auch stattgab. So musste also Amtsgerichtsdirektor Frank zur Verhandlung schreiten. Das Ergebnis war indes wieder das gleiche, nämlich meine Freisprechung.

Nun war als nächster Zug in diesem Spiel die Berufung Hentigs an das Landgericht fällig. Und da die Sache wieder vor die gleiche Strafkammer gelangt, die ihre von der Auffassung des Amtsgerichtsdirektors Frank abweichende Meinung bereits dadurch kundgegeben hatte, dass sie der Beschwerde Hentigs gegen den Zurückweisungsbeschluss Franks stattgegeben hatte, so war es nicht verwunderlich, dass Herr v. Hentig hier mehr Verständnis für seine beleidigte Seele fand. Richter war Landgerichtsrat Wintersberger mit zwei Schöffen. Er hob das Urteil des Amtsgerichtes auf, erklärte mich für schuldig eines Vergehens der üblen Nachrede und verurteilte mich zu 200 Mark Geldstrafe. Die üble Nachrede sah der Richter in der Behauptung des Artikels, der Privatkläger sei nach dem Misslingen des Hamburger Putsches in’s Ausland gegangen und seither dort geblieben, womit gegen ihn der kränkende Vorwurf erhoben worden sei, er hatte die von ihm militärisch organisierten Arbeiter (Kommunisten) durch Flucht in’s Ausland im Stiche gelassen und nicht den Mut gefunden, für sein politisches Tun vor der Strafverfolgungsbehörde einzustehen.

Gegen dieses schwer verständliche Urteil habe ich sofort Revision zum Obersten Landesgericht eingelegt. Diese hatte auch den für mich erfreulichen Erfolg, dass der I. Strafsenat dieses Gerichtes das landgerichtliche Urteil nebst den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufhob und die Sache zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an die Strafkammer zurückverwies. Der wesentliche Teil der Begründung des oberstlandgerichtlichen Urteils besagt:

„Dagegen bestehen Bedenken, ob der Vorderrichter nicht die Rechtsgrundsätze über den Wahrheitsbeweis verkannt hat. Er stellt fest, es sei richtig, dass der Privatkläger nach dem Misslingen des Hamburger Putsches, freilich nicht alsbald, sondern eineinviertel Jahre später, in’s Ausland gegangen sei, dort von dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren Kenntnis erhalten habe und dann erst nach Erteilung des freien Geleites von dort zurückgekehrt sei. Er spricht sich aber nicht darüber aus, ob die Einleitung des Strafverfahrens die Ursache für das Verbleiben des Privatklägers im Auslande war. Wäre dies der Fall, dann könnte die Ansicht des Vorderrichters, der Wahrheitsbeweis sei nicht erbracht, nur auf der Meinung beruhen, es müssten alle Einzelheiten der Behauptung als richtig erwiesen sein. Das wäre rechtsirrig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichtshofes und des Obersten Landesgerichtes genügt es vielmehr, wenn der Charakter und die wesentliche Beschaffenheit der einem andern beigemessenen Handlung erwiesen ist, während es auf Einzelheiten und das äußere Beiwerk nicht ankommt. Ist der Privatkläger v. Hentig wegen der eingeleiteten Strafverfolgung im Auslande verblieben, um dieser Strafverfolgung und der Verhaftung zu entgehen, so trifft ihn der Vorwurf, den das Berufungsgericht in dem beanstandeten Satze gefunden hat, er habe die von ihm militärisch organisierten Arbeiter im Stiche gelassen und nicht den Mut gefunden, für sein politisches Tun vor der Strafverfolgungsbehörde einzustehen, in der gleichen Weise, wie wenn schon er zu jenem Zweck in das Ausland geflüchtet wäre. Denn im Wesen und Kern und in seiner Bedeutung für die hier in Frage kommende Würdigung ist sein Verhalten das gleiche, ob es sich historisch in der einen oder anderen Weise abspielte.“

Die Sache kam zur abermaligen Verhandlung vor denselben Richter, Landgerichtsrat Wintersberger. Der ließ sich seinen Ärger über die oberstrichterliche Korrektur seines ersten Urteils, wie mir schien, mehr als für einen Richter gut und klug war, anmerken. Auf eine Zwischenbemerkung des gegnerischen Anwalts, deren Sinn und Inhalt mir nicht mehr gegenwärtig sind, ließ er sich nämlich den bezeichnenden Ausspruch entschlüpfen: „Sie wissen doch auch, dass ich an die Entscheidungsgründe des Obersten Landesgerichtes leider gebunden bin.“ Das heißt doch nichts anderes als: Ich würde den Kerl ja ganz gerne wieder verurteilen, aber die Entscheidungsgründe des Obersten Landesgerichtes hindern mich leider daran. Der gleiche Richter, der mich zuerst verurteilt hatte, musste mich in der gleichen Sache diesmal freisprechen. Ich zog für meinen Teil aus dieser peinlichen Situation den Schluss, dass es doch eigentlich richtiger wäre, zurückzuverweisende Sachen nicht vor die gleichen Gerichte, die die beanstandeten Urteile gefällt, sondern vor andere Gerichte zu bringen.

Die Reihe, den nächsten Zug zu tun, war nun wieder an Herrn v. Hentig, und er tat ihn auch, hartnäckig wie er war, und legte nun seinerseits Revision zum Obersten Landesgericht ein. Zur zweiten Verhandlung vor diesem Gerichte kam es aber nicht mehr, denn inzwischen war wieder einmal eine Amnestie erfolgt. Der Termin der Verhandlung war schon angesetzt und zwar auf den 28. Juli 1928. Seit der Prozess begonnen, waren mehr als zwei Jahre verflossen. Unter dem 18. Juli 1928 erhielt ich die  folgende Mitteilung des Obersten Landesgerichtes:

„Der Termin zur Revisionsverhandlung von Montag den 28. Juli cr. Wird aufgehoben, weil mittlerweile das Reichsgesetz über die Straffreiheit vom 14. Juli 1928 in Kraft getreten ist. Da Zweifel nicht ganz ausgeschlossen sind, ob das Gesetz auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, muss vor der gerichtlichen Entscheidung der „Beschuldigte“ gehört werden. Dem Privatbeklagten Freund wird deshalb anheim gegeben, sich binnen einer Frist von zwei Wochen zur Frage der Amnestie (§2 Abs. 1 mit §1 Abs. 1 des genannten RG) zu äußern.“

Da ich Herrn v. Hentig, seine Anwälte und deren Finessen nun zur Genüge kennen gelernt hatte, und da außerdem die ganze bisherige Stellungnahme des Obersten Landesgerichtes nicht vermuten ließ, dass es etwa nachträglich noch zu der merkwürdigen Stellungnahme des Richters der zweiten Instanz gelangen könnte, hielt ich es für besser, mich zur Amnestiefrage überhaupt nicht zu äußern und die Entscheidung darüber dem Gerichte zu überlassen. Mein Anwalt, der ganz meine Meinung teilte, formulierte diese dann in folgender Mitteilung an das Gericht:

„Aus Gründen, die in der Prozesstaktik des Privatklägers ihre Erklärung finden, hegt der Privatbeklagte Bedenken, sich gegen die Weiterführung des Strafverfahrens auf die Bestimmungen des jüngsten Amnestiegesetzes zu berufen. Er steht nach wie vor auf dem Standpunkt, sich des ihm zur Last gelegten Vergehens nicht schuldig gemacht zu haben. Deshalb bittet er das Oberste Landesgericht, ihm nachzulassen, zur Frage einer Amnestie Stellung zu nehmen. Er ersucht vielmehr das Revisionsgericht, die Frage, ob das Gesetz auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, von Amtswegen und unabhängig von einem Antrag seinerseits zu entscheiden. Für diese seine Stellungnahme ist die Tatsache, dass bei einer Einstellung des Verfahrens die ihm bisher erwachsenen sehr erheblichen Auslagen zu seinen Lasten verbleiben, ohne ausschlaggebende Bedeutung.“

Etwa drei Wochen später erhielt ich die Mitteilung: „Das Verfahren ist zufolge Einstellung aufgrund der Reichsamnestie vom 14. Juli 1928 beendet.“ Die beigefügte Begründung interessiert hier nicht weiter. Es liegt eine gewisse Ironie des Schicksals darin, dass es mir ganz ähnlich erging wie meinem Prozessgegner Herrn v. Hentig. Infolge der sich jagenden Amnestien war es dem Herrn v. Hentig nicht möglich, vor Gericht den Beweis zu führen, dass er mit seiner Organisierung kommunistischer Bataillone  keinen Hochverrat vorbereiten wollte, und mir wurde es durch den gleichen Umstand unmöglich gemacht, endgültig durch Gerichtsbeschluss feststellen zu lassen, dass ich Herrn v. Hentig mit meinen Behauptungen nicht beleidigt hatte und nicht hatte beleidigen wollen. Aber der Meinung bin ich heute noch, dass meine Aufgabe, wenn ich sie hätte durchführen können, mir wesentlich leichter geworden wäre und dass ich ihrer Lösung auch schon beträchtlich näher war als Herr v. Hentig der Lösung der seinen.

Noch eine Pressesünde

Abgesehen davon, dass ich auch als Schöffe beim Amts- und beim Landgericht des Öfteren mitzuwirken hatte, kam ich einmal noch in einem sehr eigentümlichen Falle mit dem Gericht in Berührung diesmal allerdings, obwohl ich selbst der Sünder war, infolge falscher Auslegung des Gesetzes durch die zuständigen Richter nur indirekt. Eine sehr bekannte deutsche Firma, die ihren Sitz außerhalb der damaligen Reichsgrenzen hatte, – es war Mitte der 20er Jahre – hatte in England und Amerika, wo man damals nach dem ersten Weltkriege für deutsche Waren wenig übrig hatte, mit ihrem angeblich nichtdeutschen Charakter für ihre Produkte geworben, also ihr Deutschtum verleugnet, während sie in Deutschland zu dem gleichen Zweck mit Betonung auf ihren deutschen Charakter hinwies. Dieses Gebaren empörte mich, und da ich die Beweise dafür in Händen hatte, nagelte ich es in dem unter meiner Verantwortung stehenden Teil meiner Zeitung fest. Das veranlasste die Firma zu einer Klage, die sich aber nicht gegen mich, sondern gegen meinen Verlag richtete. Dass und warum die Klägerin diesen Weg einschlug, konnte ich ja wohl verstehen. Ihr dünkte – und das sicher nicht mit Unrecht – der Verlag sei für etwaige Schadenersatzforderungen zahlungsfähiger als meine Wenigkeit, aber dass Richter entgegen der klaren gesetzlichen Sachlage auf die durchsichtige Taktik der klägerischen Firma ohne weiteres eingingen, das musste Wunder nehmen. Ich habe später diesen unglaublichen Fall in unserem Fachorgan „Deutsche Presse“ (1926 Nr. 11 vom 17.März) unter ausdrücklicher Nennung meines Namens behandelt, indem ich das Folgende schrieb:

Richter und Presse

Immer wieder begegnet man in Deutschland Gerichtsurteilen, die eine geradezu unbegreifliche Weltfremdheit ihrer Verfasser gegenüber dem Wesen und den Aufgaben der Presse erkennen lassen. Mitunter aber ist es sogar noch mehr als Weltfremdheit, ist es Voreingenommenheit gegen die Presse, die uns aus solchen Urteilen entgegenspringt. Ein klassisches Beispiel hierfür möchte ich heute den Kollegen hier zur Kenntnis bringen:

Der Münchener Zeitungsverlag (Münchener Zeitung und Bayerische Zeitung) war vor einiger Zeit von einer bekannten auswärtigen Firma verklagt worden, weil in seinen Zeitungen darauf hingewiesen worden war, dass diese Firma in England und Amerika sich und ihre Produkte mit dem nichtdeutschen Charakter ihrer Firma empfohlen hatte. Die Sache selbst ist inzwischen durch Vergleich beigelegt worden und soll deshalb hier nicht zum Gegenstand der Erörterung gemacht werden. Was aber hier erörtert werden muss, das ist Folgendes:

Durch einstweilige Verfügung der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichtes München I (gezeichnet: Grädinger, Ilgen, Hausmann) wurde dem Münchener Zeitungsverlag bei Meidung einer Geldstrafe untersagt, die erwähnte Behauptung ferner zu verbreiten. In der Begründung heißt es unter anderem:

„Der Artikel verfolgt offensichtlich den Zweck, für Konkurrenten der Antragsteller gegen Entgelt tätig zu werden, um die Firma NN im geschäftlichen Wettbewerb auszuschalten.“

Dieser unerhörte Satz enthüllt den nackten Vorwurf der Bestechlichkeit, der hier ohne jede Spur eines Beweises von einem deutschen Gerichtshof einem großen deutschen Zeitungsunternehmen unter Parteinahme für eine ausländische Firma in’s Gesicht geschleudert wird. Wie stellt sich das Gericht einen solchen Vorgang eigentlich vor? Nimmt es an, dass irgendein Konkurrent der klägerischen Firma zum Münchener Zeitungsverlag gekommen ist mit dem Angebot: Ich zahle Ihnen 1000 Mark, wenn Sie behaupten, die Firma NN ist keine deutsche Firma und ihre Produkte sind keine deutschen Erzeugnisse?

Glaubt das Gericht, dass der Münchener Zeitungsverlag dann die 1000 Mark eingestrichen und dem zuständigen Redakteur den Auftrag gegeben hat, die gewünschte Behauptung zu veröffentlichen, und dass der Redakteur sich diesem Auftrag gefügt oder am Ende gar Halbpart mit dem Verlag gemacht hätte? Hält ein deutsches Gericht so etwas bei einem deutschen Zeitungsunternehmen für möglich, oder was hat sich diese Kammer für Handelssachen des Landgerichts München I sonst dabei gedacht, als sie diesen Satz beschlussmäßig  niederschreiben ließ?

Man muss sich wundern, dass das Gericht nicht auf den Gedanken gekommen ist, Richter wissen doch schließlich auch etwas von der Existenz eines Pressegesetzes, das die Einrichtung des verantwortlichen Redakteurs kennt und diesen verantwortlichen Redakteur in erster Linie für den von ihm gezeichneten Inhalt einer Zeitung verantwortlich macht. Unser Gericht aber versteift sich sogar mit ausdrücklicher Begründung darauf, dass die Klage gegen den Verlag zu richten sei, denn es sagt: „Der Münchener Zeitungsverlag hat es in der Hand zu bestimmen, was in die Zeitung kommt. Gegen ihn muss sich daher die einstweilige Verfügung richten.“ Das Münchner Gericht scheint also zu glauben, dass ein großer Verlag sich jeden Tag um jede einzelne Notiz, die in seine Zeitungen kommt, kümmern kann und will. Dann wäre das Institut des verantwortlichen Redakteurs allerdings eine gänzlich überflüssige Einrichtung.

Tatsächlich lagen nun in unserem Fall die Dinge auch so, dass die angefochtene Notiz lediglich auf Veranlassung des verantwortlichen Redakteurs in die Zeitung gekommen war und der Verlag erst Kenntnis davon erhalten hatte, als sie schon gedruckt war. Und natürlich waren die Beweggründe des verantwortlichen Redakteurs für die Aufnahme der Notiz ausschließlich idealer und nationaler Natur. Ein Redakteur, der anders handelte, würde sich der Gefahr aussetzen, mit Schimpf und Schande aus seinem Stande ausgestoßen zu werden. Weder an den Verlag noch an den zuständigen Redakteur ist in dieser Sache irgendein offenes oder verstecktes materielles Angebot herangekommen. Müssen sich nun Verlag und Redaktion gleichwohl von einem Gericht einen solchen ungeheuerlichen Vorwurf stillschweigend gefallen lassen? Ist man gegen Derlei wirklich wehr- und schutzlos?“

Deutsche Richter fanden es also ganz in Ordnung, dass eine deutsche, außerhalb des Reiches domizilierende Firma in Deutschland mit ihrem Deutschtum Geschäfte zu machen suchte und zu gleicher Zeit um des Geschäftes willen im Ausland kaltlächelnd ihr Deutschtum verleugnete. Ja, die gleichen Richter gingen noch weiter und bezichtigten sogar den, der das nicht in Ordnung fand und öffentlich rügte, der passiven Bestechung, ohne im Geringsten einen Beweis dafür zu haben. Man sollte meinen, dass Richter, zu deren Pflichten und Aufgaben es gehört, die Volksgenossen vor Beleidigungen zu schützen, selbst mit Beleidigungen äußerst vorsichtig zu Werke gehen würden, zumal wenn die Beleidigung eine so schwere ist wie der Vorwurf der Bestechlichkeit.

Nix Daitsch!

Es war in Wien gegen Ende des Jahres 1922, also zur Zeit der steigenden Inflation, da man dort für ein Mittagessen bereits Zehntausende von Kronen bezahlen musste, zu der Zeit, als in der österreichischen Hauptstadt der Schieberweizen zu verblühen anfing und die lieben Volksgenossen, die von seinem Blühen nach Möglichkeit zu profitieren sich bemüht hatten, nach dem Reiche auszuwandern begannen, wo für diese Art von Geschäftemachern noch etwas mehr zu holen war.[4] Ich war vom Reichsverband der deutschen Presse als dessen zweiter Vorsitzender zur Teilnahme an der Gründungstagung der Reichsorganisation der österreichischen Journalisten dorthin entsandt worden und hatte mich, nachdem die mir dadurch erwachsenen Verpflichtungen erfüllt waren, mit einem Linzer Kollegen zur gemeinsamen Rückfahrt bis in seine Heimatstadt verabredet. In Österreich bestand damals die sehr praktische und vernünftige Einrichtung, dass man für die Fern-Schnellzüge gleichzeitig mit der Fahrkarte auch eine Platzanweisung erhielt. Das hatte die angenehme Folge, dass die Bahn nicht mehr Fahrkarten ausgab, als Plätze vorhanden waren, wodurch also jedem Fahrgast ein Platz gesichert und eine Überfüllung der Wagen vermieden wurde.

Nachdem ich also demgemäß Fahrkarte nebst Platznummer mir erworben, passierte ich die Sperre und suchte meinen Wagen auf, während mein Linzer Begleiter zur Erledigung irgendeiner Angelegenheit noch zurückgeblieben war. Es war noch reichlich Zeit bis zum Abgang des Zuges, der infolgedessen auch noch nicht stark besetzt war. Mein Abteil fand ich vollständig leer vor ebenso das rechts daneben angrenzende. In dem links anstoßenden dagegen hatte bereits eine dem Anschein nach zusammengehörige Gesellschaft sich etabliert, die in ihrem ganzen Aussehen und Gehaben den Schiebertyp verriet, der uns aus der Inflationszeit ja in angenehmer Erinnerung geblieben ist. Ich stellte also meinen Handkoffer in dem leeren Abteil auf den mir zugewiesenen Platz und ging dann wieder aus dem Wagen, um nach dem Linzer Kollegen zu sehen. Als ich zurückkam, waren noch keine zwei Minuten vergangen, aber zu meiner nicht geringen Verwunderung war, in dieser kurzen Zeit mein Handkoffer aus dem leeren Abteil verschwunden. Während ich überlegend, wo der wohl hingekommen sein könnte, auf den Gang heraustrat und von hier einen Blick in das anstoßende, von der Schiebergesellschaft besetzte Abteil warf, bemerkte ich plötzlich in dem mit Gepäckstücken vollgepfropften Netz ganz zu unterst mein Köfferchen. Ich war nicht wenig erstaunt, besann mich aber nicht lange, sondern begab mich schnurstracks in die Räuberhöhle, stieg sofort, ohne ein Wort zu sagen, auf die Bank und zog mit einiger Kraftanstrengung meinen Koffer unter den darauf liegenden schweren und umfangreichen Gepäckstücken hervor. Die sichtlich peinlich überraschten Abteilbewohner sahen meinen Bemühungen wortlos zu und erhoben auch keinen Einspruch, als ich das Abteil mit meinem Koffer wieder verließ und diesen auf seinen vorherigen Platz nebenan stellte. Nachdem ich so mein Eigentum in Sicherheit gebracht, beehrte ich die freundliche Nachbarschaft erneut mit meinem Besuch. Es sei doch höchst seltsam, redete ich die Leute an, wie der Koffer, der noch vor wenigen Minuten in dem leeren Abteil nebenan auf der Bank gestanden hatte, plötzlich dahinauf mitten unter ihr Gepäck geraten sei. Sie müssten doch wohl wissen, wie das eigentlich zugegangen wäre. „Nix Daitsch!“ war die ebenso einfache wie bodenlos freche Antwort. Ein paar saftige Ohrfeigen wäre ja nun wohl hier als einzig richtige Erwiderung am Platze gewesen. Aber einer allein gegen ein ganzes Abteil von Leute, das war nicht zu machen. Ich überlegte auch, ob ich Anzeige erstatten solle, kam aber zu dem Entschluss, es lieber nicht zu tun. Denn das hätte sicher eine Menge Scherereien gegeben, zum Mindesten hätte mir geblüht, zur Vernehmung vorläufig in Wien bleiben zu müssen. Dazu hatte ich aber weder Lust noch Zeit noch Geld. Meinen Koffer hatte ich wieder, und das war die Hauptsache. Mochte diese Diebs- und Schieberbande sich anderswo ihre Anwartschaft auf staatliches Freiquartier aufs Neue erwerben.

[1] In der Weimarer Republik unterhielten die Parteien Verbände, in denen sich ehemalige Frontkämpfer des 1. WK organisierten. U.a. aus diesen Verbänden gingen die jeweiligen militärischen/paramilitärischen Einheiten der Parteien hervor. Die KPD betreffend siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Proletarische_Hundertschaften und https://de.wikipedia.org/wiki/Roter_Frontk%C3%A4mpferbund

[2] Das ist freilich eine arge und im Nachhinein betrachtet durchaus voreingenommene Tatsachenbehauptung gegen Herting. Der Küstriner oder auch Buchrucker Putsch (nach Major Buchrucker), richtete sich gegen Reichskanzler Gustav Stresemann und fand am 1. Oktober, also 22 Tage vor dem Hamburger Aufstand statt und ist ein schlechtes Beispiel um zu belegen, dass Hentig Schutzbehauptungen aufstellt. Der Ludendorff-Hitler Putsch hingegen fand ebenfalls „zeitnah“ statt, nämlich am 9.11.1923, nah genug um die Diskussion verständlich zu machen, ob die Kommunisten der Rechten „zuvor“ kommen sollten oder eben nicht, wie sie in den Gremien dem Text folgend, von den Roten diskutiert worden war. Der Fall ist weniger wegen der Beleidigungsklage gegen CF interessant (die scheint wirklich aus der Luft gegriffen), als vielmehr wegen der vorgenommenen Bewertung. Denn im Verlauf des „Deutschen Oktober“ stellten sich die politischen Verhältnisse ausgesprochen Komplex dar. Während der Hamburger Aufstand eher eine „Panne“ war – war die „Revolution“ in Chemnitz abgeblasen worden, was die Hamburger nicht mit bekommen hatten, die KPD stand mit ihrem Ansinnen völlig isoliert da, aber im Zeitraum kam es zu mindestens einer förmlichen sogenannten Reichsexekution (Absetzung)  gegen Sachsens (Verfassungsrechtlich umstritten) gewählte Regierung. Bereits bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik setzte die Reichsregierung dieses Mittel ein und ebenfalls gegen die Regierung Thüringens (1923). Diesen Hintergrund auszublenden, vermutlich weil dies gewählte linke Regierungen waren, spiegelt eher den Reaktionären Zeitgeist denn die Tatsachen.

[3] Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Monatsschrift_f%C3%BCr_Kriminologie_und_Strafrechtsreform

[4] http://diepresse.com/home/wirtschaft/hobbyoekonom/708328/Kredit-oder-Untergang_Als-Osterreich-vor-der-Pleite-stand