Kinder“erholungs“kuren nach Nazi-Art

Simon Lissner, 15.8.2020

Die Tagesschauredaktion bewarb eine Dokumentation die am 10.8.2020 um 22:00 im ARD „Exklusiv im Ersten“ lief.
Außer Frage steht, womit einmal mehr bewiesen ist: Einen Schlussstrich unter die vielfältigen Formen der reaktionär-konservativen Kindesmisshandlungen wird es nicht geben, auch wenn sich eine interfraktionelle Initiative nach einer Petition von Betroffenen ehemaligen Heimkindern ab 2006 darum redlich bemüht hat, einen solchen Schlusspunkt zu setzen (siehe dazu: Antrag, Opfer von Misshandlungen in Kinderheimen, dt. Bundestag aus dem Jahre 2011).

Erneut holt die Diakonie und den in Verantwortung stehenden deutschen Staat seine üble Vergangenheit ein. Es ist schlicht so: Wer fortgesetzt und systematisch daran interessiert ist, an Wahrheit immer nur das einzugestehen, was irgendwann und irgendwo ein mutiger investigativer Journalismus aufzudecken vermag und wagt, muss sich wirklich nicht darüber wundern, dass auch im 21. Jahrhundert und rund 60 Jahre nach den begangenen Verbrechen und deren Verschleierung, nebst der großzügigen Unterbringung von NS-Verbrechern und KZ-Schergen in Jugendeinrichtungen, immer noch vermeintlich (!) Neues an den Tag kommt (siehe dazu Kindererholungskuren in der Obhut von Nazis, tagesschau.de 10.8.2020).

Natürlich – wer erst jetzt oder erneut wieder, über diese Berichte fällt, zumal jüngere Menschen unter uns, kann sich zurecht empören. Wirklich verärgert hingegen bin ich über die „Empörung“ (auch hier sei Ehrlichkeit zugestanden) von Politiker*innen, die seit Jahren in der Politik aktiv sind, und die nun empört tun, obwohl man erwarten darf, dass sie das wissen konnten oder hätten wissen müssen. Eben weil es bereits seit 2011 intensiven Beratungen zum Thema gab. Weshalb wurden die „Kuren“ seinerzeit eigentlich nicht mit einbezogen? Immerhin, die Kommission schaffte es ja (das ist positiv!) das zeitgleich angewendete, gegen Kinder und Jugendliche gerichtete, stalinistische Terrorregime der ehemaligen DDR einzubeziehen.
In einigen Beiträgen wird so getan, als sei das alles sensationell neu. Verärgert bin ich nicht darüber, dass dieses Thema erneut aufgegriffen wird, sondern darüber, dass dieses Kapitel weiterhin eine offene Wunde in unserem Lande ist. Und was mich ganz besonders ärgert, ist. dass GRÜNE daran ein gerüttelt Maß Mitschuld tragen, das Thema auf unwürdigste Art und Weise zu versenken. Dazu schrieb ich im Jahre 2013 (!) einen langen Beitrag, der sich natürlich auf bis dahin bereits dokumentierten Fälle stützte (siehe Schuldig in einem minder schweren Fall). Weshalb? Weil ich darin kritisierte, ich war damals noch Parteimitglied, dass der ziemlich miese sogenannte interfraktionelle Beschluss ein Beitrag sei, das Thema zu Gunsten der Täter*innen zu „erledigen“.
Desweiteren schließlich, anlässlich eines seinerzeit aktuellen Falles (Haasenburg), schrieb ich alle zuständigen Politiker*innen der Länder, damals noch, meiner Partei an, mit der Bitte um Überprüfung der Situation in den Heimen (siehe dazu: https://www.lissnerweb.de/2013/09/zur-situation-der-heimkinder-in-deutschland/). Die Petition war von einigen Parteifreundinnen unterstützt und mitgezeichnet worden. Soweit ich erinnere, erhielt ich exakt eine (!) Antwort aus einem Bundesland. Und das war nicht Hessen. Nur um das mal anzumerken.

Eine Grüne Realpolitikerin (Selbsteinschätzung) und „Urgestein“ der hessischen Grünen (viele Jahre in hohen Ämtern und so weiter) verbreitete nun via Facebook sichtlich empört den Bericht zum Thema des SS Mannes und Massenmörders Scheu als Leiter eines Kurheimes für Kinder. Es ist interessant ihre Forderung zu lesen, „die Diakonie“ stünde in der Pflicht. Stimmt. Aber wir waren da mal weiter und die GRÜNEN haben die Gelegenheit, die daraus resultierenden Konsequenzen einzufordern, mit dem „interfraktionellen Beschluss“ und dessen Umsetzung, nicht nur verstreichen lassen, sondern daran mitgearbeitet.

Niemand hätte sich darum gekümmert, liest man mancherorts. Das jedenfalls ist ein „mutiges“ Selbstzeugnis, das diejenigen sich ausstellen, die vermutlich, sich selbst mit „Allen“ verwechseln. Gerade das verärgert mich, auch und gerade deshalb, weil jedwedes moralinsaure Getue vor dem Hintergrund der realpolitischen Praxis, die mit der Umsetzung des interfraktionellen Beschlusses einhergeht und ging, die Ohrfeige erneuert und verstärkt, die man all jenen spätestens 2013, verpasst hat, die sich „darum“ gekümmert haben. Die Politikerin betonte, mich korrigierend, sie habe sich seinerzeit gekümmert. Das akzeptierte ich, auch wenn ich ihr persönlich gar nichts „unterstellt“ hatte. Das kann man nun nicht mehr nachlesen. Scheinbar bin ich nun „entfreundet“, denn ich sei ein „Besserwisser der alle anderen für doof hält“, waren ihre letzten Worte soweit ich erinnere. Weshalb sie dennoch den interfraktionellen Beschluss verteidigt, bleibt ein Rätsel für mich, ebenfalls „Kümmerer“, der es nach den neuerlichen Veröffentlichungen um so mehr für einen Fehler der Grünen hält, das mit abgesegnet zu haben. Eines der vorgebrachten Argumente in dem Disput schien mir dann doch merkwürdig genug, noch einmal an sie zu schreiben. Sie sprach davon, dass es zwar, sinngemäß zitiert, verständlich aus Sicht der Betroffenen sei, dass nun (mit der Umsetzung des interfraktionellen Beschlusses) eine Lebensaufgabe ihren unbefriedigenden Schlusspunkt fand. Möglich, das meine Bemerkung darauf zur „Entfreundung“ führte: Eine „Lebensaufgabe schrieb ich, ich ergänze hier, der Aufarbeitung eines Lebenstraumas, ende nicht damit, dass man eine „gute“ Lösung im Sinne der Täter*innen fände, sondern eine solche Ende bekanntlich mit dem Abschied der Betroffenen von diesem Planeten, jedenfalls aus der Sicht derer, denen diese Lebensaufgabe aufgebürdet wurde. Selbstredend hätte mich interessiert, wie sie das gemeint hat. Nun ja, sich von unbequemen Freunden trennen, auch das ist „Realpoltik“ in Zeiten des GRÜNEN Aufschwunges.

Es ist zu hoffen, dass sich das traurige Schauspiel an dem die Mehrheit der Parteien im Bundestag beteiligt war, sich nun nicht wiederholt. „Im Interview mit Report Mainz sicherte der Vorsitzende der Sozialministerkonferenz, Manfred Lucha, zu, die jahrzehntelangen und flächendeckenden Misshandlungen während der Kinderkuren aufzuarbeiten.“ (Tagesschau, print v. 10.8.2020, Link s.o.).

Leider leben nun immer weniger, die sich in den 60/70iger Jahren an der Kampagne zur Befreiung der Heimkinder beteiligt haben (siehe dazu Bambule, Ulrike Meinhoff). Die „Kur“ die Nachkriegsdeutschland seinen Kindern verpasste, ist ein weiterer Baustein, der das ergänzt, was seit langem bekannt, aber auch bei GRÜNS eher „realpolitisch“ nicht „prioritär“ behandelt wurde, auch wenn das in dem einzigen Antwortschreiben, das ich seinerzeit bekam, verwegen behauptet wurde.

siehe auch:

Lena Gilhaus, Alptraum Kinderkur Teil 1, WDR 1 Live vom 7.12.2020

Lena Gilhaus, Alptraum Kinderkur Teil 2, WDR 5 vom 8.12.2020

Arbeitsgemeinschaft Verschickungskind – Netzwerk der Verschickungskinder