1914-1918 Chefredakteur der München-Augsburger und Berichte von der Front

In diesem Kapitel schildert der Autor einige Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen in der Zeit ab 1914 bis etwa 1919/1923. Im April 1914 übernahm Freund die Chefredaktion der München-Augsburger (heute der Münchner Merkur).
Ausgedehnte Reisen für das Blatt führten ihn an die Fronten des WK I, nach Nordfrankreich, Belgien und u.a. in die Türkei.
Die Anmerkungen verantwortet der Herausgeber.

Im Original beginnt der Abschnitt mit der Überschrift (BD-I-201-240)

Chefredakteur der München-Augsburger Abendzeitung[1]

Am 1. April 1914 trat Karl Stolz in den Ruhestand, und ich wurde sein Nachfolger als Chefredakteur der München-Augsburger Abendzeitung. Das war durchaus nicht etwa eine Selbstverständlichkeit. Es war manches vorausgegangen was eigentlich auch etwas anderes als mindestens sehr wohl möglich erscheinen ließ. Im Verlag war schon zehn Jahre früher ein Besitzwechsel vorgegangen. Die Zeitung war aus dem Besitz der Hirth’schen Erben in den der bekannten Kunstverlagsfirma F. Bruckmann A. G. in München übergegangen. Die treibende Kraft war dabei Karl Stolz gewesen, der sich, was sein gutes Recht war, damit einen Pensionsanspruch sicherte. Stolz hatte zuerst versucht, in Augsburg selbst ein Konsortium zusammenzubringen, das die Zeitung in Augsburg hätte festhalten sollen. Aber diese zugeknöpften Augsburger Industriebarone und Bankleute, die sich wohl auf Maschinen und Textilien verstanden, hatten keinen Sinn für das Zeitungsgeschäft, obwohl es eigentlich ein gefundenes Fressen für sie gewesen wäre. Ich selbst hatte mich, nachdem ich Wind davon bekommen hatte, was im Gange war, bemüht, den Verlag der Münchener Zeitung für die Sache zu interessieren. Das tat dieser auch sehr lebhaft. Aber Stolz schien die Firma Bruckmann für seine Absichten besser und sicherer, und da er in dem Falle zweifellos der Stärkere von uns beiden war, siegte er schließlich.

Im Übrigen ist es notwendig zum Verständnis des Kommenden Einiges vorauszuschicken über schon weiter zurückliegende persönliche Gegensätze in der Redaktion, die sich im Laufe der Zeit immer mehr verschärft und zugespitzt hatten. Der eine der beiden norddeutschen Kollegen in der Redaktion war ein Schwiegersohn unseres Chefs. Dieser Mann war der Typ des Norddeutschen, dem auch nach einem Vierteljahrhundert Leben in Bayern noch jede Einfühlung in das süddeutsche und speziell unser altbayerisches Wesen fehlte. Wir hatten uns von Anfang an nicht sonderlich verstanden, und unser kollegiales Verhältnis war im Gegensatz zu dem nach und nach recht gut gewordenen, das mich mit der Rheinländer-Kollegen verband, im Laufe der Jahre nicht besser, sondern immer schlechter geworden. Viel hatte dazu beigetragen, dass der Chef selbst, der ein sehr gescheiter und dabei überaus gerechter Mann war, nicht nur den Mangel an Verständnis für bayerische Verhältnisse bei seinem Schwiegersohn bitter empfand, sondern bei seiner Impulsivität diesem Empfinden auch mir gegenüber nicht selten unmissverständlichen Ausdruck gab. Dem Schwiegersohn gefiel es natürlich auch wenig, dass sein Schwiegervater mich nach und nach immer mehr zur engsten Mitarbeiterschaft gerade in den für unsere Zeitung naturgemäß wichtigsten bayerisch-politischen Dingen heranzog. Da er (der Schwiegersohn) zweifellos den Ehrgeiz hatte, einmal der Nachfolger seines Schwiegervaters zu werden, machte er, trotzdem sein Schwiegervater das gar nicht wünschte und erwartete, fortgesetzt Versuche, sich in bayerisch-politischen Dingen zu betätigen. Diese Arbeiten warf dann der Chef, wenn ich Abends in dem in seiner Privatwohnung eingerichteten Büro mit ihm zusammen arbeitete, gewöhnlich mir auf den Tisch mit einer wegwerfenden Geste und der ebenso wegwerfenden Bemerkung: Da hat er wieder etwas zusammen geschrieben, sehen Sie zu, ob Sie etwas Vernünftiges daraus machen können. Das war begreiflicherweise keine angenehme Arbeit für mich. Denn wenn der Kollege am andern Tage seine einigermaßen veränderte Arbeit gedruckt in der Zeitung las, so rempelte er in der Regel dann mich wieder an, und ich konnte ihm nur sagen, dass, was geschehen, im Auftrag seines Schwiegervaters geschehen sei. Dergleichen wirkte, wie man leicht verstehen wird, nichtsweniger als verbessernd auf unser Verhältnis. Da er aber nun einmal der Schwiegersohn war, suchte ich schon bald die Konsequenzen aus dieser Lage zu ziehen, indem ich mich anderweitig nach einer passenden Stellung umzusehen begann.

Zweimal stand ich zwischen 1900 und 1910 in Unterhandlungen mit dem Münchener Zeitungsverlag, die jedes mal soweit gediehen, dass ich nur noch einen für mich durchaus günstigen Vertrag zu unterschreiben brauchte, und jedes mal überredete Stolz mich wieder zum Bleiben, selbstverständlich unter Gewährung aller mir von der andern Seite in Aussicht gestellten finanziellen Vorteile. Um ferner meine Befürchtungen für den Fall eines Wechsels in der Chefredaktion zu zerstreuen, wurde mir vertraglich die Nachfolge Ritters der Leitung unseres Münchner Redaktionsbüros zugesichert in einer Form, die mich darin von dem neuen Chefredakteur so gut wie unabhängig gemacht hätte. Gleichwohl war ich, als ich ein drittes Mal ein sehr vorteilhaftes Angebot der Münchener Zeitung erhalten hatte, entschlossen, nun doch endlich zuzugreifen, weil mir die ständige persönliche Verärgerung auf die Dauer wider den Strich ging. So kam ich eines Abends – es war unmittelbar vor Weihnachten – nachdem ich in München persönlich alles bis zur Vertragsunterschrift, die telegraphisch gegeben werden sollte, erledigt hatte, zu Stolz ins Büro, der, da ich in Gehrock und Zylinder war, sogleich merkte, dass wieder etwas los sein musste. Ich ließ ihn darüber auch nicht lange im Unklaren und setzte ihm in aller Ruhe auseinander, dass das gespannte Verhältnis zwischen seinem Schwiegersohn und mir nicht nur mir, sondern auch ihm (dem Chef) das Leben sauer mache und dass namentlich die doch zweifellos bestehende Anwartschaft des Schwiegersohnes auf die Nachfolge in der Chefredaktion mein Ausscheiden für alle Beteiligten als die beste Lösung erscheinen ließe. Nun folgte eine Szene, die ich in meinem ganzen Leben nicht vergesse. Erst lehnte Stolz, der mir an einem Doppelschreibtisch gegenübersaß, sich in seinem Stuhle weit zurück und starrte einige Minuten lang schweigend gegen die Zimmerdecke. Als er sein Gesicht wieder mir zuwandte, sah ich überrascht und bestürzt, wie dem mächtigen alten Manne die hellen Tränen über die Backen kollerten und wie er sich mühte, seiner Bewegung Herr zu werden. „warum“, so sagte er, „wollen Sie mir das antun? Ich habe Sie doch immer nur gefördert, und Sie werden nicht behaupten können, dass ich jemals meinen Schwiegersohn Ihnen gegenüber irgendwie bevorzugt hätte.“ Das musste ich voll anerkennen. Allein ich stellte ihm vor, dass schließlich doch auch ihm ein Gefallen geschehe, wenn diese unleidliche Geschichte auf die Weise, wie es jetzt möglich wäre, aus der Welt geschafft würde. Wieder besann Stolz sich einige Augenblicke, um dann tränenden Auges wörtlich den folgenden Ausspruch zu tun, der dem Gerechtigkeitssinn dieses Mannes ein leuchtendes Zeugnis ausstellt: „Ein Mensch von Ihrem Wissen, Ihrem Können und Ihren Fähigkeiten, wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle täte? Ich würde es einfach darauf ankommen lassen.“ Jetzt gab ich mich besiegt und versprach ihm mein Bleiben, nachdem er mir die finanziellen Verbesserungen, die mir das Münchner Engagement gebracht hätte, noch in aller Form zugesagt hatte.

Das Absagetelegramm, das ich demzufolge am heiligen Abend an den Verlag der Münchener Zeitung richten musste, hat mir der Direktor Buchner später oft noch vorgeworfen. Es hat aber trotzdem kein Hindernis gebildet, dass wir etwa zehn Jahre nachher doch noch zusammenkamen.

Der Verlag der Augsburger Abendzeitung wäre, wie eben schon erwähnt, im Jahre 1904 an die Münchner Kunstverlagsfirma F. Bruckmann A. G. übergegangen. Meine Stellung hatte dadurch keine Veränderung erfahren. Im Jahre 1912 beschloss der neue Verlag, die Zeitung von Augsburg nach München zu verlegen. Am 1. April dieses Jahres fing man an, in der Paul-Heyse-Straße drei kleine Häuser abzubrechen, an deren Stelle das neue große Zeitungsverlagshaus kommen sollte.

Fünf Monate später, am 1. September 1912, hielten wir bereits unsern Einzug. Am Samstag den 31. August waren wir zum letzten Male in Augsburg herausgekommen, am Montag den 2. September erschien in München die erste Nummer der „München-Augsburger Abendzeitung“, wie sie nun hieß. Die Auflage der Augsburger Abendzeitung betrug vor ihrer Übersiedlung nach München ungefähr 48000. Sie entwickelte sich auch in München günstig weiter und Überschritt bald die 50000-Grenze. Weniger günstig hatte sich in den letzten Jahren das Reinerträgnis gestaltet.

In den Jahren von 1908 mit 1911 hatte sich dieses zwischen 200000 und 265000 Mark bewegt, 1912 sank es auf unter 97000 Mark und 1913 gar auf 43000 Mark. Das machte, wie begreiflich, dem Verlag Bruckmann nicht geringe Sorgen. Stolz, der bisher nicht nur die Chefredaktion, sondern auch die Geschäftsleitung innegehabt, war wirklich ein alter Mann geworden, den man mit der notwendigen Sanierung nicht mehr betrauen konnte. Man sprach auch schon davon, dass er in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Die Trennung von Geschäftsleitung und Chefredaktion war zwar bereits bei der Übersiedlung vorgenommen worden, der Verlag verkannte darüber hinaus aber auch nicht, dass bei der Neubesetzung der Chefredaktion scharf darauf gesehen werden musste, dass dieser neue Mann in der Sanierung mit der Geschäftsleitung aufs Engste zusammenzuarbeiten bereit und willens war.

Die Sache einem Fremden, Außenstehenden anzuvertrauen, hatte der Verlag von Anfang an wenig Neigung, und so stand die Wahl eigentlich nur zwischen dem Schwiegersohn und mir. Nachdem die Dinge, nicht durch meine Schuld, einmal soweit gediehen waren, wehrte ich mich selbstverständlich meiner Haut und konnte dabei als Haben auf mein Konto buchen, dass der nun die geschäftliche Leitung führende Direktor Heuser, dessen Aufgabe die Sanierung in erster Linie war, sich beim Verlag für mich einsetzte. Auch der Aufsichtsrat verschloss sich nicht den guten sachlichen Gründen, die für mich sprachen, wollte aber auf der anderen Seite Stolz zuliebe, dessen Mithilfe der Erwerb der Zeitung allein zu danken war, den Schwiegersohn nicht gänzlich durchfallen lassen.

So unterbreitete man mir schließlich den Kompromissvorschlag einer Teilung der Chefredaktion in eine politische, die ich übernehmen, und eine nichtpolitische, die dem Schwiegersohn zufallen sollte. Aus Rücksicht auf meinen alten Lehrmeister Karl Stolz machte ich die Konzession, dass die vorgeschlagene Teilung zwar nach Außen in der Ankündigung des Wechsels und im Impressum d. h. also in der gesetzlichen Verantwortlichkeit für den Zeitungsinhalt in die Erscheinung treten solle, dass aber nach Innen ich tatsächlich allein Chefredakteur werde, dem alle Anordnungen und letzten Entscheidungen zuständen.

Damit war der Verlag einverstanden, und Stolz war mir herzlich dankbar. Denn er wusste, dass, wenn ich die Alternative „Alles oder nichts!“ gestellt hätte, ich damit durchgedrungen wäre, dass ich demnach ihm ein Opfer gebracht hatte. Die weitere vierjährige Zusammenarbeit mit dem Schwiegersohn gestaltete sich übrigens durchaus erträglich, da er sich fügte und ich ihm nichts nachtrug. Später hatte ich in meiner Eigenschaft als Berufsverbandsvorsitzender zu meiner Freude noch Gelegenheit, feurige Kohlen auf seinem Haupte zu sammeln, indem ich ihm eine Ruhestandszusatzrente von seinem Verlag (die Zeitung war inzwischen schon wieder in andere Hände übergegangen) erkämpfte.

Die Sanierung

Am 1. April 1914 war ich also zum Chefredakteur der München-Augsburger Abendzeitung aufgerückt. Das war gewiss nach Außen hin eine Ehre und ein schöner, beruflicher Erfolg für mich, aber ich sollte auch die Kehrseite dieser Medaille sehr bald und sehr gründlich kennen lernen. Erst nachdem ich die Redaktionsführung übernommen hatte, wurde mir voller Einblick in den wenig günstigen Stand der Finanzgebaren des Verlages gewährt, und jetzt erst erfuhr ich, dass der Reinertrag im Geschäftsjahr 1913 nur noch mit 43000 Mark hatte gebucht werden können, dass also eine Sanierung von Innen heraus unvermeidlich sei. Das war nicht gerade sehr ermunternd für den Anfang meines neuen Wirkens. Aber da ich nun schon ins Wasser gesprungen war, musste ich eben sehen, wie das rettende Ufer zu erreichen war. So machte ich mich denn zusammen mit Direktor Heuser alsbald energisch an die Arbeit. Da kam der Krieg und brachte allein noch für die fünf Monate seiner Dauer im Jahre 1914 einen Ausfall an Anzeigeneinnahmen von ca. 100000 Mark. Gleichwohl gelang es uns, teils durch Einsparungen, teils Dank der Erhöhung der Bezieherzahl den Reinertrag im ersten Kriegsjahre auf über 115000 Mark zu steigern. 1915, im zweiten Kriegsjahre, konnten wir, obwohl die Anzeigeneinnahmen um weitere 100000 Mark zurückgingen, sogar einen Reingewinn von über 193000 Mark erzielen. In diesem Jahre stieg die Bezieherzahl auf den höchsten Stand, den die Zeitung überhaupt jemals zu verzeichnen hatte, nämlich auf 65000. Im Jahre 1916 führten wir das zweimalige tägliche Erscheinen ein, ein Experiment, bezüglich dessen Durchführung mitten im Kriege Kollegen anderer großer Blätter meinten, dass viel Mut dazu gehöre. Die Kosten des Experimentes hatte Direktor Heuser mit 30000 M. berechnet, und der Reingewinn betrug trotzdem die für das dritte Kriegsjahr immerhin noch recht anständige Summe von 163000 Mark. Ich darf mir und meiner Mitarbeit mit Fug und Recht und mit gutem Gewissen einen nicht ganz unansehnlichen Teil an diesem Erfolg zusprechen. Da das aber alles neben der laufenden Redaktionsarbeit geleistet werden musste und meine wichtigsten Mitarbeiter in der Redaktion draußen im Felde standen bzw. schon gefallen, gefangen oder schwerverwundet waren, so war für mich eine tägliche Arbeitszeit von 12 bis 14 Stunden das Normale, nicht gerechnet die vielen Stunden, die ich zu Hause noch für die Zeitung weiter schaffte. Sonn- und Feiertage und Urlaub waren längst unbekannte Dinge geworden. Bis mir dann gegen Ende 1916 der Herr Reichskanzler v. Bethmann Hollweg etwas überraschend zu einem außerordentlichen Urlaub verhalf. Darüber werde ich in dem Kapitel „Mein Kampf gegen Bethmann Hollweg“ zu erzählen haben.

Ich habe geglaubt über diese internen geschäftlichen Dinge hier ganz offen reden zu dürfen, einmal weil ja die München-Augsburger-Abendzeitung leider nicht mehr existiert, irgendeine Schädigung also nicht möglich und nicht zu befürchten ist und weil auf der andern Seite diese Offenheit zu meiner eigenen Rechtfertigung notwendig ist. Die München-Augsburger Abendzeitung hat nach meinem Weggang noch nahezu 17 Jahre fortgelebt, aber es ging ständig abwärts mit ihr. Das geschah indes nicht, weil sie, wie viele Leute glaubten und sagten, von Augsburg nach München gegangen war. Man wies auf den Präzedenzfall der Allgemeinen Zeitung hin, der Vergleich stimmte aber nicht. Denn die Augsburger Abendzeitung hatte, als sie noch in Augsburg war, in München erheblich mehr Abonnenten wie in Augsburg und war im Übrigen im ganzen Königreich Bayern so gleichmäßig verbreitet, dass die besseren Zugverbindungen von München aus ihr nur günstige Aussichten eröffneten. Die Zeitung hätte sehr wohl auch in München auf die Dauer mit Erfolg weiterbestehen können, wenn ihre späteren geschäftlichen und namentlich ihre redaktionellen Leiter mehr Verständnis für das Wesen ihrer Zeitung gehabt hätten. Denn um ein wirklich guter Chefredakteur und auch Redakteur im Allgemeinen zu sein, genügt es nicht zu wiesen, was eine Zeitung überhaupt d. h. also jede Zeitung erfordert (wer das nicht weiß, ist überhaupt kein Journalist und Redakteur) viel wichtiger noch ist es zu wissen, was speziell die Zeitung verlangt, der man dient. Wenigstens war das früher so, und soweit ich heute von Außen sehen kann, hat sich das nicht wesentlich geändert.

Gegen Ende des Jahres 1919, als ich schon nahezu zwei Jahre bei der Münchener Zeitung war, trat der bekannte Buchverleger J. F. Lehmann, der schon während des Krieges unserem d. h. dem gegen Bethmann Hollweg kämpfenden Kreise angehört hatte, mit der Mitteilung an mich heran, dass er in kürzester Frist die Mittel beisammen hätte, um den Verlag der München-Augsburg Abendzeitung zu erwerben, dass unser gemeinsamer Freund, Bankdirektor Seitz, mich ihm als den zur Überführung des Blattes in anderen Besitz geeignetsten Mann empfohlen hätte und dass für den Fall des Erwerbes selbstverständlich auch meine Person für die Redaktionsführung in erster Linie in Frage käme. Wäre diese Sache zwei Jahre früher an mich herangekommen, so hätte ich sicherlich mit beiden Händen zugegriffen. Jetzt überlegte ich die Sache reiflich.

Die München-Augsburger Abendzeitung von 1919 war nicht mehr die, deren Chefredaktion mir 1916 aus den Händen genommen worden war. Ihre Lage war in der Zwischenzeit infolge der ziel- und planlosen Halt der Redaktion schon so bedenklich geworden, dass ich selbst lebhafte Zweifel hatte, ob es mir unter diesen Umständen gelingen würde, den Karren noch einmal aus dem Dreck zu ziehen. Die Sorge für meine große Familie und die wachsende Verschlimmerung der politischen, und wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands waren auch nicht eben geeignet, zu derartigen Experimenten zu ermuntern. Außerdem war ich von meiner neuen Stellung bei der Münchener Zeitung durchaus befriedigt und hatte auch dieserhalb wenig Grund, mich in ein Abenteuer zu stürzen. Später wiederholte sich die gleiche Versuchung noch einmal in anderer Form. Der Versucher war diesmal die Deutsche Volkspartei, die die Zeitung für ihre Parteizwecke an sich bringen wollte. Hier winkte ich gleich von vorneherein ab.

Als die Münchner Neuesten Nachrichten[2] aus dem Besitz von Knorr und Hirth in den eines Konsortiums übergingen, das unter der Führung von Bankdirektor Seitz stand, wurde mir von diesem das Anerbieten gemacht, unter Dr. Gerlich als Chefredakteur sozusagen als journalistischer und redaktionstechnischen Fachmann in die Redaktion der M.N.N. einzutreten. Die finanzielle Seite der Angelegenheit spiele keine Rolle, erklärte mir mein Freund Seitz, über die würden wir uns leicht einigen. Ich solle nur einmal grundsätzlich zu erkennen geben, ob ich wolle oder nicht.

Ich lehnte jedoch ab, indem ich Seitz mitteilte, dass ich den Dr. Gerlich für alles andere bloß nicht für einen Journalisten hielte, dass ich ihm daher die Qualitäten zur Führung einer großen Zeitung nicht zutraute und deshalb auch mit ihm als Chef nicht zusammenarbeiten könne. Wenn ich schon einmal meinen Kopf hinzuhalten hätte, so hielte ich ihn lieber für meine eigenen Dummheiten als für die anderer Leute hin. Der Dr. Gerlich verfügte zwar über eine ungeheuere Suada[3], die meinem guten Seitz offenbar starken Eindruck gemacht hatte, aber die Suada ist kein Merkmal eines guten Journalisten, und es kann einer ein solcher auch ohne Suada sein.

Und dass der Dr. Gerlich kein Journalist war, erwies sich schon sehr bald. Eine der ersten journalistischen Großtaten Gerlichs war nämlich eine Leitartikelserie, die überhaupt kein Ende mehr nahm und dazu bestimmt war, den Marxismus in Grund und Boden zu schreiben. Der Marxismus war für Dr. Gerlich das rote Tuch. Dieser Archivmann von Beruf glaubte ganz ernsthaft, den Marxismus mit endlosen wissenschaftlichen Abhandlungen in einer Tageszeitung vernichten zu können. Der erste Artikel fing auf der ersten Spalte der ersten Seite der M.N.N. an und lief über die fünf Spalten dieser Seite hinweg und noch einige Spalten auf der zweiten Seite weiter.

Und in den in der nächsten Zeit folgenden Nummern des Blattes schlossen sich noch weit mehr als ein Dutzend Artikel vom gleichen Kaliber über dasselbe Thema an. Gelesen wurden diese Bandwürmer wohl nur von ganz wenigen der vielen Abonnenten, und der ganze Aufwand an Gehirnschmalz, Papier und Druckerschwärze war demnach umsonst. Der verschwendete Platz in der Zeitung hätte für Nützlicheres Verwendung finden können. Wer so etwas – notabene im dritten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts – fertig bringt; hat den Nachweis; dass er kein Journalist ist, ein für allemal gründlich erbracht. Mir war es insofern eine Genugtuung, als meine Weigerung, mit Dr. Gerlich zusammenzuarbeiten, damit eine glänzende Rechtfertigung erfuhr.

Die Geschichte der München-Augsburger Abendzeitung

Kurz vor meiner Machtübernahme als Chefredakteur war mir vom Verlag der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden, eine kleine Geschichte der München-Augsburger Abendzeitung zu schreiben. Unserm Direktor Heuser war es unter Aufwand von viel Zeit, Geld und Mühe gelungen, aus einer ganzen Reihe deutscher und außerdeutscher Archive und Bibliotheken und aus Privatbesitz urkundliches Material zusammenzutragen, mit und aus dem sich unschwer der kulturell und zeitungsgeschichtlich überaus bedeutsame und wertvolle Nachweis führen ließ, dass die Augsburger Abendzeitung nach dem, was auf diesem Gebiete bis dahin erforscht und festgestellt war, nicht nur die erste gedruckte deutsche Zeitung, sondern die älteste mit Gutenberglettern gedruckte Zeitung der Welt überhaupt war, eine Tatsache, die umso beachtenswerter ist, als ich mit den zur Verfügung stehenden Unterlagen das zusammenhängende Erscheinen der Zeitung vom Jahre 1609 bis 1914 (d. h. bis zu der Zeit, da ich an meine Arbeit ging), also über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren ziemlich einwandfrei nachzuweisen in der Lage war. Eine nach dem 30jährigen Kriege sich auftuende Lücke konnte ich dabei durch den Nachweis des Familienzusammenhanges der Besitzer überbrücken.

Im Frühjahr 1914 fand in Leipzig eine Buch- und graphische Ausstellung (Bugra) statt. Unsere Geschichte der München-Augsburger Abendzeitung, als Geschichte der ältesten gedruckten Zeitung der Welt, ein wichtiges Kulturdokument, sollte dort ein aufsehenerregendes Ausstellungsobjekt werden und wurde es auch. Die Wirkung ging freilich, wie damals noch so vieles andere, in den Stürmen des ersten Weltkrieges unter. Später haben die nach und nach an verschiedenen deutschen Universitäten nicht ohne des Reichsverbandes der Deutschen Presse und mein Zutun entstandenen zeitungswissenschaftlichen Institute aus meiner und Heusers Arbeit für ihre weiteren Forschungen nicht unbeträchtlichen Nutzen gezogen.

Sechs Wochen lang saß ich im Januar und Februar 1914 sozusagen Tag und Nacht über dem Studium der Heuserschen Akten und der von ihm aus den Bibliotheken von Hannover, Stockholm, Augsburg und München herbeigeschafften alten Bände der Augsburger Abendzeitung. Die besonders kostbaren ältesten beiden Jahrgänge von 1609 und 1610, die erst im Jahre 1903 von Postrat Grimme in der Bibliothek von Hannover entdeckt worden waren, bekamen wir allerdings nicht direkt in die Hände, sie wurden nur – eine verständliche Vorsichtsmaßnahme – in den Gewahrsam des Geheimen Staatsarchives in München gegeben, wo wir sie einsehen und photographische Aufnahmen machen durften. Im März 1914 war mein Manuskript druckfertig, und zur Eröffnung der Bugra im Mai lag das 92 Seiten starke, mit vielen, sehr instruktiven Facsimilis ausgestattete Bändchen vor: „Die Zeitung, ihre Entwicklung von den erster Anfängen bis heute, 1609-1914, München-Augsburger Abendzeitung, ein kurzer Abriss ihrer mehr als 300jährigen Geschichte“, Verlag F. Bruckmann A.G.

Inzwischen war ich selbst der Chefredakteur dieser ältesten gedruckten Zeitung geworden. Als solcher versandte ich an bekannte Persönlichkeiten des damaligen öffentlichen Lebens Exemplare meiner Schrift. Von den Briefen, die ich darauf erhielt, gingen einige über den Rahmen des bei solchen Gelegenheiten üblichen Konventionellen nicht unbeträchtlich hinaus. Die Herren bayerischen Minister zwar antworteten meist nur formell, wenn auch liebenswürdig, so z. B. der Ministerpräsident Frhr. v. Hertling, Kriegsminister v. Kreß und Innenminister Frhr. v. Soden. Der Verkehrsminister v. Seidlein fand „den Inhalt der Abhandlung vom kulturgeschichtlichen Standpunkt aus sehr beachtenswert“, der Kultusminister v. Knilling sah die Schrift „als ein neues Zeugnis der reichen Vergangenheit und bedeutungsvollen Entwicklung der Zeitung“, an, und der Justizminister v. Thelemann sagte, dass ihn die Schrift umso mehr interessiert habe, als er seit seinen Jugendjahren Leser der Augsburger Abendzeitung gewesen und daher auch persönlich ein geraumes Stück ihrer Entwicklung und Gestaltung hätte mitverfolgen können. Der Chef des Kabinetts des Königs Ludwig III. Staatsrat v. Dandl, der nachmalige Ministerpräsident, schrieb mir: „Die Schrift mit ihren historischen Reminiszenzen und wohlgelungenen Wiedergaben alter und ältester Zeitungsnummern hat mich in hohem Grade interessiert, und ich habe nicht verfehlt, Seiner Majestät dem König ein Exemplar zu unterbreiten. Allerhöchst dieselben haben dieses Exemplar der Privatbibliothek einverleibt und sagen Ihnen für die Vorlegung freundlichen Dank.“

Mehr aus sich heraus ging in seinem Dankschreiben der damals noch im Ruhestande lebende langjährige bayerische Ministerpräsident Graf Crailsheim. Es verlohnt sich, den wesentlichen Teil seines handschriftlichen Briefes wiederzugeben:

„Wenn diese Zeitung ihr seit langer Zeit begründetes Ansehen bisher bewahrt hat, so verdankt sie dies einer ebenso zielbewussten wie maßvoll Haltung, welche ihr in weiten Kreisen des Bürgertums einen festen Rückhalt verleiht, sie verdankt es aber auch der Vertrauenswürdigkeit ihrer Vertreter und der Redaktion. Oft habe ich mich während meiner aktiven Dienstzeit gegenüber dem früheren, leider verstorbenen Mitarbeiter der Zeitung Josef Ritter offen über politische Fragen ausgesprochen in der Gewissheit, dass bei der Veröffentlichung diejenigen Grenzen eingehalten werden, welche ich ziehen zu müssen glaubte, und dieses Vertrauen ist niemals getäuscht worden. Gewiss konnte die Zeitung, wie in der Schrift konstatiert wird, niemals als offiziös gelten, sie war immer selbständig und vertrat ihre eigenen Anschauungen, auch wenn sie von denjenigen der Regierung abwichen, aber sie unterhielt loyale Beziehungen zur Regierung, um sich für ihre Haltung, die erforderliche positive Grundlage zu verschaffen…

In Bekanntenkreisen habe, ich nicht selten sagen hören, dass die München-Augsburger Abendzeitung wegen ihrer maßvollen Haltung andern den sog. entschiedenen Liberalismus vertretenden Organen vorgezogen wird.“

Besonders wertvoll waren mir die ebenfalls eigenhändig geschriebenen Briefe zweier meiner ehemaligen Universitätslehrer. Der berühmte Historiker Prof. Dr. v. Heigl schrieb:

„Sie haben mir mit Ihrer Spende eine große Freude bereitet. Ich  habe die Abhandlung schon von Anfang bis zum Ende gelesen und ich möchte nur wünschen, dass alle meine ehemaligen Schüler im Stande wären, so saubere, methodische, von wissenschaftlichen Geiste getragene Arbeit zu bieten. Auch ich war einmal Mitarbeiter der Abendzeitung. In den 60er Jahren erschien im Sammler aus meiner Feder eine ziemlich umfangreiche geschichtliche Erzählung „Neues Leben“. Ich hatte aber, weil schon mein Bruder als fruchtbarer Novellist tätig war, das Pseudonym „Theodor Carl“ gewählt. Nehmen Sie, bitte ich, herzlichen Glückwunsch und verbindlichsten Dank entgegen.

Ihr ergebenster Heigel.“

Und der bekannte Literaturhistoriker Prof. Dr. Franz Muncker sagte in seinem Schreiben:

„Für die freundliche Übersendung Ihrer inhaltsreichen, durch vortrefflich veranschaulichende Abbildungen doppelt wertvoll gemachten Schrift sage ich aufrichtig Dank. Dass die München-Augsburger Abendzeitung eine so lange Geschichte schon hat, war mir neu. Der Beweis aber scheint mir durch Ihre Mitteilungen so weit gesichert, wie das bei dem notwendig unvollständigen Beweismaterial nur immer möglich ist. Nicht minder interessant als die Feststellung des geschichtlichen Zusammenhanges sind aber die Nachrichten über Auflage, Abonnement, Honorare, Anzeigen, po­litisch konfessionelle Stellung der Zeitung und dergl. Aus dem reichen Material, dessen Sammlung einen überaus großen Fleiß bekundet, ist mit ausgezeichneter Geschicklichkeit das Charakteristische ausgewählt.“

Helmut Fischer, ein Schüler des Münchner Professors der Zeitungswissenschaft Dr. d’Ester, hat später den Wahrscheinlichkeitsbeweis, den ich in meiner Schrift über die Geschichte der München-Augsburger Abendzeitung dafür angetreten habe, dass die in der Bibliothek von Hannover im Jahre 1903 vom Postrat Grimme aufgefundenen „Aviso-Bände von 1609 und 1610 in Augsburg erschienen seien und somit vermutlich die ältesten Ausgaben einer mit Gutenberglettern gedruckten und seitdem, bis in unsere Zeit fortgeführten Zeitung in Deutschland und in der Welt darstellten, angefochten und zwar in der Hauptsache damit, dass er mit der Behauptung operierte, es sei zu der Zeit (1609) bereits der gregorianische Kalender eingeführt gewesen, und es könne deshalb die vom Finder der „Aviso“-Bände und von mir vorgebrachte auf die Nachrichtendatierung des „Aviso“ gestützte Begründung bezüglich des wahrscheinlichen Erscheinungsortes Augsburg nicht stichhaltig sein. Fischer entwickelte dann seine Kalendertheorie weiter und kam zu dem Schluss, dass der „Aviso“ irgendwo im Braunschweigischen, vermutlich in Helmstedt, erschienen sei. Diese Theorie Fischers klingt zwar, wenn man sie so hört und nur oberflächlich betrachtet, ganz bestechend, geht man ihr aber tiefer auf den Grund, so erweist sich die Hauptstütze seiner Beweisführung jedenfalls als anfechtbar. Der gregorianische Kalender ist zwar im Jahre 1582 durch eine Bulle[4] des Papstes Gregor XIII., nach dem er seinen Namen erhalten hat, offiziell eingeführt worden, indem die Bulle verfügte, dass nach dem 4. Oktober 1382 sogleich der 15. Oktober zu schreiben seil, um den gegenüber dem bis dahin geltenden julianischen Kalender notwendig gewordenen Ausgleich herbeizuführen. Mit der tatsächlichen Durchführung dieser Verfügung ist es aber keineswegs überall so schnell gegangen, wie Fischer offenbar angenommen hat. In den rein katholischen Ländern und Gegenden dürfte der neue Kalender wohl schon nach einigen Jahren allgemein eingeführt gewesen sein. Aber die Nichtkatholiken hatten es damit nicht so eilig, und speziell die Protestanten in Deutschland und anderen Ländern, die allem was von Rom kam, mit äußerstem Misstrauen sich widersetzten, lehnten auch die Kalender-Reform sehr lange ab, eben weil sie vom Papste ausging. Dr. Alphons Nobel hat in seiner „Deutschen Geschichte bis zum Weltkrieg“ festgestellt: „Diese vernünftige Reform (die Kalender-Reform) stieß, weil sie von Rom kam, auf erbitterten Widerstand. Das protestantische Deutschland nahm den gregorianischen Kalender erst sehr viel später an, so dass lange die Sonn- und Festtage in den protestantischen und katholischen Gegenden nicht zusammenfielen.“ Das „erst sehr viel später“ und das „lange“ Nobels dürfen sicher dahin ausgelegt werden, dass 1609 in den protestantischen deutschen Gegenden der gregorianische Kalender noch keine Geltung hatte. Da Augsburg damals stark protestantisch war und die „Augsburger Zeitung“ bzw. der „Aviso“, einen klaren protestantischen Einschlag aufwies, wie ich in meiner Schrift nachgewiesen habe und was Fischer wohl auch nicht wird bestreiten wollen, und da Braunschweig zu dieser Zeit bestimmt schon protestantisch war, so steht Fischers Kalender-Theorie nicht mehr auf all zu starken Füßen. Aber auch wenn sie richtig wäre, würde das nicht viel ausmachen. Denn die Tatsache, dass eine Augsburger Zeitung bzw. eine „Continuation[5] der Augsburger Zeitung“ schon während des 30jährigen Krieges erschienen ist (man beachte auch dabei den in meiner Schrift nachgewiesenen Zusammenhang der Herausgeber- und Druckerfamilien! Continuation d. h. Fortsetzung der Augsburger Zeitung deshalb, weil der Herausgeber der Augsburger Zeitung inzwischen wegen seines protestantischen Bekenntnisses es vorzog, von Augsburg nach Öttingen überzusiedeln) bestätigt jedenfalls, dass die Augsburger Zeitung, wenn nicht die erste, so doch eine der aller ersten gedruckten deutschen Zeitungen gewesen ist.

Und jedenfalls war sie die einzige und älteste deutsche Zeitung und nicht nur deutsche, sondern der Welt überhaupt, die ihr Erscheinen drei Jahrhunderte lang noch bis in unsere Tage hinein hatte fortsetzen können. Sie war also auf dem Gebiete des Zeitungswesens der ganzen Welt eine singuläre Erscheinung und stellte ein Kulturdenkmal ungewöhnlicher und seltener Art dar. Als solches wäre diese Zeitung, die vor 15 Jahren (1934) noch erschien[6], wohl der Erhaltung wert gewesen, und es hätte für ein auf seine alte Kultur und seine kulturellen Leistungen mit Recht stolzes Volk, für ein Volk, das der Welt die ihr ganzes geistiges Leben umwälzende Erfindung des Buchdrucks geschenkt, das mit dem Gedanken der periodischen Nachrichten-Massenverbreitung die Zeitung geschaffen und damit die Entstehung des für die Menschheit so wichtig und bedeutungsvoll gewordenen Instituts der Presse ermöglicht hat, eigentlich eine selbstverständliche und eine Ehrenpflicht sein sollen. Man sorgt doch auch dafür, dass andere, künstlerisch, historisch oder sonst wie für die Nachwelt wertvolle Kulturdenkmäler nach Möglichkeit erhalten werden. Die deutschen Zeitungsverleger, deren Existenz sich auf Gutenbergs Erfindung gründet und die in ihrer großen Mehrzahl durch die Zeitung reiche Leute geworden sind, hätten hier eine Pflicht dankbarer Pietät erfüllen und gleichzeitig durch eine Kulturtat sich selbst ein Denkmal setzen können. Zu verdienen freilich war dabei kaum viel, man hätte vielleicht sogar einiges Geld ausgeben müssen, und dazu hatten die deutschen Zeitungsverleger der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zumindest wenig Neigung.

Seltsam muss es uns erscheinen, dass, soweit bekannt, der einzige Deutsche, der wenigstens ein Empfinden dafür hatte, dass man ein solch’ einzigartiges Kulturdenkmal nicht einfach sang- und klanglos verschwinden lassen könne, Niemand anderer war als – Hitler, „unser Führer“. Die Art und Weise, wie er seinem Empfinden Ausdruck gab und wie er etwas, was ihm selbst offenbar auch ein Unrecht dünkte, gut machen wollte, war allerdings eine echte Hitler-„Tat“. Er dekretierte nämlich ganz einfach, dass eine x-beliebige Zeitung, die nur auf ein ganz kurzes Dasein zurückblicken konnte, die mit der alten Abendzeitung nie auch nur das Geringste zu tun gehabt und die in ihrer ganzen Art und Aufmachung ein ausgesprochener Gegensatz zu ihr war, den „Kopf“ d.h. den Titel der Abendzeitung zu übernehmen habe, womit er sicher glaubte, eine kulturelle Rettungstat vollbracht und wenigstens das Andenken der Abendzeitung als der älteste gedruckten Zeitung Deutschlands und der Welt verewigt zu haben. Die Zeitung, die er sich dazu ausersehen, war bekanntlich die frühere „Telegrammzeitung“, die Nachmittagsausgabe der M.N.N. Plötzlich hieß sie nicht mehr Telegrammzeitung, sondern

München-Augsburger Abendzeitung
älteste Zeitung Deutschlands, gegründet 1609

Hier wurde ein guter Gedanke in einer schlechten, ja unmöglichen, weil den verfolgten Zweck vollständig verfehlenden Form in die Tat umgesetzt. Wenn man den Gedanken so verwirklichen wollte, dass es einen richtigen Sinn gehabt hätte und dass damit erreicht worden wäre, was erreicht werden sollte, dann war nur eines zu tun, dafür zu sorgen (etwa in Form einer Stiftung), dass die Abendzeitung weiterbestehen konnte und zwar so, wie sie war in ihrer guten alten Zeit, in dem Geiste und der Tradition, die ihr aus ihrem jahrhunderte langen Bestehen erwachsen waren. Vielleicht war Hitler bei dieser seiner „Tat“ auch nicht ganz unbeeinflusst von seinem Pressechef[7], der in den letzten Lebensjahren der Abendzeitung noch deren Wirtschaftsredakteur gewesen war.

Frontfahrten im ersten Weltkrieg – in Nordfrankreich und Belgien

In meiner Eigenschaft als Chefredakteur der München-Augsburger Abendzeitung war es mir während des ersten Weltkrieges vergönnt, bei wiederholten Reisen nach Kriegsschauplätzen im Westen und Osten Vieles zu sehen und zu erleben, was nur wenigen Nicht-Soldaten zu sehen und zu erleben beschieden war. Nach Erstarrung der Front im Westen im Herbst 1914 hielt es die Heeresleitung für zweckmäßig, nicht nur den besonders bestellten und zugelassenen Kriegsberichterstattern, sondern auch führenden Presseleuten aus der Heimat einmal durch den Augenschein zu zeigen, wie unsere Lage auf dem westlichen Kriegsschauplatze eigentlich war, in welchen Formen sich der nun allgemein gewordene Stellungskrieg abspielte, und so durch Vermittlung der Presse dem deutschen Volke einen Begriff davon zu geben, wie man jetzt Krieg zu führen gezwungen war. Unter dem 17. März 1915 erhielt ich vom stellvertretenden Generalstab der Armee in Berlin ein Einladungsschreiben, in dem es u.a. hieß:

„Der stellv. Generalstab beabsichtigt, vom 23, d. M. ab unter der Führung des Hauptmanns Neumann eine auf etwa acht Tage berechnete Reise nach dem westlichen Kriegsschauplatz zu veranstalten, und beehrt sich Euer Hochwohlgeboren dazu ergebenst einzuladen. Die an der Reise teilnehmenden Herren versammeln sich 23. März 1915 in Frankfurt a. M., Hotel Frankfurter Hof, wo um 7 Uhr 30 Abends eine Besprechung stattfinden wird. Das Reisegepäck muss, da die Beförderung streckenweise in Autos erfolgt, auf einen kleinen Handkoffer beschränkt bleiben. Es wird empfohlen, warme Kleidungsstücke, Ausrüstung zur Fahrt in offenen Autos, Kopfüber zu, Autobrille und wasserdichte, derbe Fußbekleidung mitzunehmen.“

Ich fand mich also am 23. März 1915 Abends in Frankfurt a.M. ein und traf dort, nachdem ich mich dem Führer, Hauptmann Neumann, vorgestellt, als Reisegefährten die folgenden Kollegen an:

Hofrat Doenges, Chefredakteur
der Sächsischen Staatszeitung

Evers, Chefredakteur
der Mecklenburger Nachrichten

Dr. Fitger, Chefredakteur
der Bremer Weserzeitung

Hertel, Chefredakteur
der Danziger Neuesten Nachrichten

Nießner, Chefredakteur
des Düsseldorfer Generalanzeigers

Pohl, Chefredakteur
des Halleschen Generalanzeigers

Dr. Reismann-Grone, Chefredakteur
der Rheinisch-Westfälischen Zeitung

Dr. Sierke, Chefredakteur
der Braunschweiger Landeszeitung

Dr. Waldaestel, Chefredakteur
des Darmstädter Tageblatt

Wir aßen gemeinsam zu Abend, und während dessen unterrichtete uns unser Hauptmann Neumann über das, was beabsichtigt war. Am andern Morgen brachen wir auf. Unser nächstes Ziel war das Große Hauptquartier in Charleville Mezières. In Metz, unserer damals größten und stärksten Festung, war abgesehen davon, dass man fast nur Militär am Bahnhof sah, noch verhältnismäßig wenig vom Kriege zu spüren. Umso unvermittelter und deshalb geradezu ergreifend rief uns die Fahrt von dort nach Sedan die Schrecken des Krieges ins Bewusstsein. Aus dem köstlichen Frieden der Heimat, die überall, wo wir ihre Gefilde in eilender Fahrt durchquert hatten, Arbeit und Leben und die gewohnte Ordnung gezeigt hatte, versetzte uns sozusagen der erste Schritt ins Feindesland mitten hinein in die Wirkungen der Kriegsfurie. Nimmer wird dieser Anblick von düster in den blauen Himmel starrenden Mauertrümmern einer gänzlich zerstörten großen Ortschaft aus dem Gedächtnis sich verwischen, nimmer der Anblick der Flüchtlinge, die durch einen seltsamen Zufall gerade hier uns zu Gesichte kamen. Es war ein endlos langer Zug von französischen Frauen, Kindern und Greisen mit armseligen Hausrat bepackt, die aus dem Kriegsgebiet durch die Schweiz nach vom Kriege nicht berührten Teilen Frankreichs geschafft werden sollten. Was mögen hinter den teils traurig teils finster uns musternden Blicken dieser Unglücklichen für Gedanken sich verborgen haben? Dort die zerstörten Heimatstätten, hier die heimatlos gewordenen Menschen – das war der Krieg, der uns hier gleich mit der vollen Wucht seines Ernstes packte! Wohl haben wir auf unseren weiteren Fahrten durch Nordfrankreich und Belgien noch viel entsetzlichere Bilder der Zerstörung und Vernichtung – zu einem guten Teil übrigens von unsern Feinden selbst angerichtet – wohl haben wir inzwischen im zweiten Weltkrieg noch ganz andere Zerstörungsausmaße in unserer eigenen Heimat mit wachsendem Schrecken kennen gelernt und selbst empfunden, aber der erste Eindruck ist in solchen Dingen immer der tiefste und nachhaltigste.

Am späten Nachmittag erreichten wir unser erstes Ziel: das Große Hauptquartier. Es war natürlich nicht leicht, an solchem Ort, wo alles schon beinahe bis aufs letzte Plätzchen belegt war, plötzlich neue Gäste unterzubringen. Wir zivilistischen Pressemenschen kamen ganz unvermutet zu militärischen Qualifikationen und erhielten Ortsunterkunft als Militärpersonen. Die Hauptsache, ein ordentliches Bett, war da und genügte vollständig uns zufrieden zustellen. Die Bezeichnung des Hauses als Hotel, die unsern immer freundlichen und gefälligen militärischen Mentor verführt hatte, von einem „Vestibül“ als Treffpunkt zu sprechen, musste freilich nach Augenscheineinnahme als etwas euphemistisch angesehen werden, und die Versammlung im „Vestibül“ gestaltete sich nachher zum heitersten und vergnügtesten Augenblick der ganzen Reise und, bildete noch lange den Gegenstand mehr oder minder schlechter Witze. Das „Hotel de Commerce“ war ein Unikum in jeder Beziehung. Geführt wurde es von dem Hausburschen, einem Luxemburger, der Direktor, Portier, Oberkellner, Zimmermädchen und Hausbursche alles in einer Person war. Der Gute wusste diese Ämter sehr wohl miteinander zu vereinigen und trug sie mit Würde. Sein Charakter setzte sich aus einer Mischung von Naivität, Dummheit und Schläue zusammen, wobei man im gegebenen Falle immer im Zweifel sein konnte, mit welcher dieser löblichen Eigenschaften man es gerade zu tun hatte. Eine besondere Eigentümlichkeit dieses Biedermannes war, dass er jede Frage wieder mit einer Frage beantwortete. Als ein Kollege nach dem Zimmermädchen frug, war die erstaunte Antwort: Wo ist ein Zimmermädchen? Ein anderer Kollege wünschte Brot. Er: Woher soll ich Brot nehmen? (Die Brotration wurde dort wie daheim damals bereits zugeteilt.) Dabei war der Mann aber im Allgemeinen doch wieder sehr dienstwillig und besorgte gerne Alles, was man von ihm haben wollte, wenn er es konnte.

Kaum angekommen entführte man uns nach dem etwas außerhalb der Stadt gelegenen Kriegspressequartier, wo Major Nicolai, der Chef der Abteilung IIIb des Großen Generalstabes (Nachrichtenwesen) den Wirt machte. Hier lernten wir beim Abendessen, währenddessen ich zur Rechten des Hausherrn saß – sein Name ist später noch viel genannt worden – eine Anzahl Offiziere der Abteilung und die auf dem westlichen Kriegsschauplatz offiziell zugelassenen Kriegsberichterstatter kennen.

Überall, wo man draußen im Felde auch hinkommen mochte, traf man bayerisch Landsleute, und überall, wo man hinkam, hörte man – ich habe es mit Stolz und Genugtuung empfunden und sage es hier mit den gleichen Gefühlen – ihr Lob in den höchsten Tönen singen. Ein höherer preußischer Offizier meinte, als er von meiner Herkunft hörte, ohne mir schmeicheln zu wollen, könne er mir als Bayern doch in neidloser Anerkennung sagen, dass meine Landsleute überall ihren Mann stellten und dass sie gar manches Mal durch ihr entschlossenes, rücksichtsloses Eingreifen die Lage gerettet hätten. Und sie waren überall gerne gesehen, unsere Bayern, und wurden von den andern deutschen Brüdern fast mit einer gewissen liebevollen Hochachtung genannt. Auch im Hauptquartier lernte ich eine Anzahl Bayern kennen, die den Landsmann von der Presse mit aufrichtiger Freude begrüßten. Drollig war dabei die Vorstellung des ersten: „Als Bayer haben Sie jedenfalls am Gymnasium schon einmal mit dem Lehrbuch von Engelmann und Bauer Bekanntschaft gemacht. Der eine davon war mein Vater.“ Die Bekanntschaft mit dem Sohne, dem Feldpolizeidirektor Bauer bereitete mir übrigens ein erheblich reineres und ungetrübteres Vergnügen als die mit dem Vater. Dieser wackere Landsmann, ich meine den Sohn, der als Feldpolizeidirektor im Großen Hauptquartier ein sehr wichtiges und verantwortungsvolles Amt bekleidete, machte am nächsten Mittag unsern Führer durch die Stadt. Manches Interessante und Lehrreiche bekamen wir auf diesem Gang zu sehen und zu hören. Auch den Kaiser sahen wir, als er eine Ausfahrt machte, und den von mir als Politiker nicht gerade sehr hoch geschätzten Herrn Reichskanzler v. Bethmann Hollweg begegneten wir bei seiner Rückkehr von einem Spaziergang. Auffällig bemerkbar machten sich in der Stadt Haufen von bettelnden Kindern, die uns mit kläglich gewinselten Bittrufen: un pe tit sou, un petit son![8] verfolgten. Diese Gesellschaft hatte sich auch schon verschiedene deutsche Brocken angeeignet, und mit besonderer Vorliebe suchten sie das deutsche Herz durch ein kräftig hinausgeschrienes „Gott strafe England!“ zu erweichen. Einer der Kollegen versprach den kleinen französischen Bengeln einen Extrasou, wenn sie à bas Poincaré! riefen, und sofort schrie die ganze Rotte: à bas Poincaré![9] Sie hätten zweifellos auch sonst noch alles Beliebige geschrien, wenn man es unter Verheißung weiterer Sou’s verlangt hätte. Zwei kleine Mädchen hatten es ganz besonders auf unsern Führer abgesehen. Sie wären seine tägliche Kundschaft, erklärte er uns. Als er mit den gewohnten Sou’s zunächst nicht herausrücken wollte, verübten die beiden Kröten ein regelrechtes Attentat auf seine Westentasche, wo sie aus Erfahrung die für sie bestimmten Geldstücke vermuteten. Und das Attentat gelang, da die hohe Polizeiobrigkeit dem Betteln dieser armen Kinder gegenüber gutmütig ihre sämtlichen Augen zudrückte.

Nach Beendigung unseres Stadtbummels waren wir von den Militärattachés der Neutralen zum Frühstück geladen. Sie hausten in einer hübschen Villa draußen vor der Stadt und führten eine vorzügliche Küche und dazu einen nicht zu verachtenden Keller. Es war eine ungewöhnlich reizvolle Stunde, die wir in diesem Hause verlebten. Nahezu ein Dutzend „kommandierender Generale“ der Presse ohne Uniform unter einem Dutzend der buntesten und verschiedensten Uniformen der Welt, ein Bild, das man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Wir Nichtuniformierten vertrugen uns übrigens ausgezeichnet mit unsern uniformierten Gastgebern, die fast alle, die einen mehr, die andern weniger, in unserer deutschen Sprache sich mit uns verständigten. Mein Gegenüber war der Bulgare, ein freundlicher, aber sehr ernster Mann, mein Nachbar zur Linken ein italienischer Oberst, der zur Rechten ein spanischer Major. Der Letztere entpuppte sich im Laufe des Gespräches als ein gewiegter Kenner und eifriger Verehrer unseres Goethe. Auch Italiens Vertreter – Italien war im Frühjahr 1915 noch neutral – war ein überaus charmanter Herr, der in Süddeutschland und speziell bei uns in München sehr wohl Bescheid wusste. Noch muss ich eine Eigentümlichkeit aus dieser ungewöhnlichen Gesellschaft erwähnen. Doyen des Korps der Militärattachés war der, der am Längsten den Posten bei seiner Berliner Botschaft oder Gesandtschaft innehatte. So konnte es kommen, dass ein an Jahren junger Herr als Doyen[10] fungierte, und so hat tatsächlich bei unserer Tafel der Jüngste der Attaché, der argentinische Oberstleutnant Pertinez, den Vorsitz geführt.

Im Anschluss an unser Frühstück war für den Nachmittag eine Autofahrt durch die Ardennen angesetzt, an der sich auch die Militärattachés, unsere Gastgeber beteiligten und die uns bis auf belgisches Gebiet und in den sog. Semoisabschnitt führte, wo zu Beginn des Krieges heftige Kämpfe stattgefunden hatten, deren Spuren noch allenthalben zu beobachten waren. Leider hatten wir schlechtes Wetter. Bei schöner Witterung muss eine solche Fahrt durch und über dieses Waldgebirge, das landschaftlich viel Ähnlichkeit mit unserm Taunus hat, prächtig sein. An einer der schönsten Stellen liegt das Stammschloss des bekannten Kreuzfahrers Gottfried von Bouillon. Nachdem wir noch die beiden fast gänzlich zerstörten Ortschaften La Chapelle und Givonne passiert hatten, erreichten wir in einem großen Bogen Sedan, bei dessen Anblick sich zu den neuen Eindrücken des im Gange befindlichen Krieges die großen historischen Erinnerungen von 1870 gesellten. Wir erstiegen auch die Höhe, auf der das echt französische „à l’honneur de la cavallerie francaiçe“ errichtete und den todesmutigen Gallifetschen Reitern gewidmete Denkmal thront und von der aus der Leiter der Fahrt den Gang der Schlacht von 1870 erklärte.

Von Sedan aus statteten wir dem Fort Les Ayvelles einen Besuch ab, wo Major Nicolai uns erstaunten Laien die Wirkungen deutscher 21-cm-Geschütze zeigen konnte. Nachdem die Felddiensttauglichen unter uns – einige der Wehrpflicht bereits um ein Erkleckliches Entwachsene, die schon bald 70jährigen Kollegen Fitger und Sierke, waren freiwillig ausgeschieden – eine sehr schlüpfrige Kletterpartie siegreich bestanden, schauten wir in die Tiefe der unendlichen Trichter, die die Zuckerhüte unserer Artillerie geformt hatten. Da lernte man verstehen, warum der Kommandant des Forts es schließlich vorgezogen, den unnützen Widerstand aufzugeben. Und da er den Fall des ihm anvertrauten Platzes nicht Überleben wollte, machte er in dem daneben gelegenen Wäldchen seinem Leben selbst ein Ende. Deutsche Landwehrmänner haben ihm ein ehrliches Soldatengrab bereitet, an dem auch wir nicht ohne innere Rührung standen. Die Inschrift an dem einfach, aber geschmackvoll zurechtgezimmerten Holzkreuz besagte:

Hier ruht der tapfere Kommandant.
Er konnte den Fall der Festung nicht überleben
In diesem Holzkreuz schlicht
Der deutsche Soldat Ehrt auch den Feind,
Den Helden der Pflicht.

Nach unserer Rückkehr nach Charleville und nach einiger Umformung unseres äußeren Menschen waren wir Abends Gäste des Chefs des Generalstabes des Feldheeres v. Falkenhayn. Der Kreis der Geladenen war klein und umfasste, uns eingerechnet, nur 21 Personen. Was Speise und Trank anlangt, so ging es an diesem Abend schon beinahe mehr als einfach zu. Als Hauptspeise bekamen wir ein Rindsgoulasch vorgesetzt, das in Bezug auf Zähigkeit jede Konkurrenz aushalten konnte. Ich hatte schon damals den schnöden Verdacht und habe ihn heute noch, dass die Herren des Großen Generalstabes der Presse einmal zeigen wollten, wie bescheiden und einfach sie lebten. Es wird wohl aber nicht jeden Tag ganz so schlimm gewesen sein. Mein Tischnachbar war der damalige Chef des Feldeisenbahnwesens, Oberst Groener, der im Kriege und nach dem Kriege auch sonst noch, zuletzt als Reichswehrminister, eine große Rolle gespielt hat. Er hatte den Mund noch nicht richtig aufgetan, da wusste ich schon, dass ich es mit einem Vollblutschwaben zu tun hatte. Wir unterhielten uns im Übrigen sehr gut und zwar über das Thema Presse im Allgemeinen und über unser Nachrichtenwesen von und nach dem Auslande im Besonderen, dessen gänzliche Unzulänglichkeit gerade der erste Weltkrieg gezeigt hat. Ich muß gestehen, ich war Überrascht über das sachkundige Verständnis, das der Herr Oberst dieser Angelegenheit und der Notwendigkeit eines gründlichen Wandels entgegenbrachte. Einige Zeit unterhielt ich mich auch mit dem Generalquartiermeister, General v. Freytag-Lorighoven, einem feinen, liebenswürdigen Manne, bei dem die Unterhaltung nur unter dem Umstand einigermaßen litt, dass er schwerhörig war. In Generalmajor Zoellner, dem militärischen Bevollmächtigten Bayerns im Großen Hauptquartier, der mir schräg gegenübersaß, begegnete ich wieder einmal einem bayerischen Landsmann, der sich mir nach beendeter Tafel fast den ganzen Abend in freundlichster Weise widmete. Nach einiger Zeit gesellte sich noch ein weiterer Bayer, der Major der Luftschifffahrttruppen Lohmüller zu uns, der Hochinteressantes von seinen letzten Unternehmungen (mit Zeppelinen) gegen Paris[11] zu erzählen wusste. Auch zwei türkische Gäste hatte Ekz. v. Falkenhayn an seinem Tische: den Präsidenten der osmanischen Deputiertenkammer Halil Bey und den Generalleutnant Zekki Pascha.

In der Etappe und im Schützengraben

Hatte der erste Tag der Reise uns einen kleinen Einblick in die Zentralwerkstätte der Heeresleitung gewährt, so sollten die nächsten uns mit dem Heere selbst in Verbindung bringen. Ein kleiner Extrazug, aus Lokomotive, Packwagen und dem Salonwagen des Chefs des Feldeisenbahnwesens bestehend, brachte uns nach St. Quentin[12], dem Sitz des Oberkommandos der III. Armee. Zivilisten waren in dieser Gegend auf der Eisenbahn offenbar recht seltene Erscheinungen, denn überall sahen höchlich erstaunte Gesichter unserem Zuge nach. Die Fahrt an sich bot nicht viel Ungewöhnliches. Unsere braven Landsturmmänner als Eisenbahnschutzwache waren uns nachgerade schon vertraut geworden. Dass unsere Soldaten in Feindesland Holz fällten, Kanalschifffahrt trieben und anderen friedlichen Tätigkeiten oblagen, davon konnten wir uns vom Zuge aus im Vorbeieilen mit eigenen Augen überzeugen. Es gab sozusagen überhaupt nichts, was unsere Soldaten draußen nicht ausübten. Sogar militärische Warenhäuser hatten sie draußen eingerichtet, wie wir in Laon und St. Quentin sahen, wo die Soldaten alles für ihres Lebens Notdurft Notwendige, Nützliche und Angenehme für einen angemessenen Preis erstehen konnten. Laon ist durch seine Lage auf einem Höhenrücken in ausgedehnter Ebene und mit seiner wundervollen Kathedrale weithin sichtbar, und auf der ganzen Fahrt nach St. Quentin war es eigentlich der einzige Punkt, der uns auffiel.

In St. Quentin kamen wir gerade recht zum Mittagessen, zu dem man uns in’s dortige Offizierskasino eingeladen hatte. Der Nachmittag wurde dann mit Besichtigung von Etappeneinrichtungen ausgefüllt. Es war ungeheuer viel, was wir da in einigen Stunden zu sehen kriegten, und ich muss gestehen, dass wir aus dem Erstaunen gar nicht herauskamen. Was wusste damals auch ein harmloser Zivilist von Etappeneinrichtungen! Es war einfach fabelhaft, was hier zum großen Teil aus Mitteln, die man in Feindesland angetroffen und unsern Zwecken dienstbar gemacht hatte, alles geschaffen worden war. Aus ehemaligen Fabriken hatte man riesige Werkstätten für den gesamten Heeresbedarf gemacht. Da wurden schadhaft gewordene Geschütze, Maschinengewehre, Autos, Wagen etc. wieder instandgesetzt und Arbeiten geleistet, die man bei den bescheidenen Hilfsmitteln kaum für möglich hätte halten sollen. Der sog. Pionierpark befasste sich hauptsächlich mit der Holzbearbeitung und besorgte alles, was an der Front in dieser Beziehung gebraucht wurde, und das war nicht wenig. Kriegsmaterial aller Art wurde in der Etappe auf Vorrat gehalten. Kriegsbeute wurde sortiert und, soweit tunlich, für unsern Bedarf wieder brauchbar gemacht. Und alles ging in deutscher Ordnung, Gründlichkeit und Pünktlichkeit vor sich, an die sich gar die Hunderte von französischen Arbeitern schon gewöhnt hatten, die hier, gegen entsprechende Bezahlung selbstverständlich, unter deutscher Aufsicht im Dienste des deutschen Heeres standen. Wir sahen ferner eine Feldbäckerei im Betrieb, in der täglich nicht weniger als 28000 Brotrationen hergestellt wurden. Wir wurden durch eine Schlacht- und Viehhofanlage geführt mit allen Einrichtungen für die Fleischversorgung des Heeres bis zur Selchkammer, die unsere Feldgrauen mit frischer geräucherter Wurst zu versehen hatte.[13]

Dann zeigte man uns ein großes Etappenlazarett, das im Justizpalast untergebracht und so eingerichtet war, dass jede, auch die schwerste Operation dort vorgenommen werden konnte. Zur Zeit unseres Besuches war dieses Lazarett nur verhältnismäßig schwach belegt. In der Abteilung der Schwerverwundeten erlebte ich einen Zwischenfall, bei dem mir Weinen und Lachen gleich nahe waren. Unmittelbar an der Tür, durch die wir den Saal betraten, lag ein Schwerverwundeter, ein älterer, bärtiger Mann, der mir gleich auffiel dadurch, dass er mit geschlossenen Augen fortwährend halblaut, ich weiß nicht, ob mit sich selbst oder mit der Schwester, die am Kopfende seines Bettes stand und seine eine Hand in der ihren hielt, redete. Da, als wir uns wieder zu entfernen im Begriffe waren und der uns führende Arzt eben am Bette dieses Mannes vorüberschritt, fasste dieser blitzschnell eine Hand des Doktors und bat mit flehentlicher Stimme: „Herr Oberstabsarzt, i hob so furchtbar Durscht, gel i kriag an Schoppen Bier, wissen’s,  bin a Bayer.“ „Ja“, sagte begütigend der Arzt, „Sie sollen einen haben.“ Das machte dem offenbar im Fieberwahn sprechenden Mut, und rasch ergänzte er seine vorherigen Worte: „Aber a Maß wann i kriagn tat, Herr Oberstabsarzt, i hob so vui Durscht!“ Der Vorgang hatte etwas Komisch-Rührendes, was mich im Innersten ergriff. Auf den Gang heraustretend sahen wir eine Schar französischer Zivilbevölkerung, die, wie wir hörten, im Lazarett unentgeltlich ärztliche Beratung, und Behandlung erfuhr und von dieser Wohltat gerne und ziemlich ausgiebig Gebrauch machte. Wie überhaupt das Verhältnis der Einwohnerschaft zu unsern Soldaten ein recht gutes, mitunter vielleicht ein zu gutes war.[14]

Noch habe ich zwei Etappeneinrichtungen zu erwähnen, die mir ob ihres hygienischen und sozialen Charakters wichtig erschienen: ich meine die Entlausungsanstalt und das Kriegsheim. Der Name Entlausungsanstalt klingt ja nicht gerade sehr schön und ästhetisch, deckt aber eine Sache von größter Bedeutung, und unsern Frontsoldaten jedenfalls klang auch die Bezeichnung nur angenehm und verheißungsvoll in die Ohren. In St. Quentin hatte Generaloberarzt Dr. Altgeld dieses nützliche Institut in einer alten Färberei mit Hilfe eines geschickten Technikers eingerichtet. Hier machten die in körperlicher Verwahrlosung von der Front Zurückkehrenden einen gründlichen Reinigungs- und Auffrischungsprozess durch, und man muss die Leute gesehen haben, wie sie kamen und wie sie gingen, um zu begreifen, welche Wohltat ihnen dadurch erwiesen wurde. Abgesehen davon war aber die Sache in gesundheitlicher Beziehung von allergrößter  Tragweite, da die Läuse als die Träger des Typhusbazillus gelten und die Befreiung der Leute von ihnen also schon wegen der Ansteckungsgefahr dringend geboten erschien. Das Verdienst der Männer, die diese Einrichtungen erdacht und praktisch durchgeführt haben, ist wirklich nicht hoch genug anzuschlagen. Denn sie erhielten und schenkten uns damit ganze Bataillone, ja Regimenter, die in früheren Kriegen durch ansteckende Krankheiten dahingerafft oder doch mindestens dem Frontdienste auf längere Zeit entzogen wurden.

Verließ der aus der Front zur Erholung zurückkommende Mann wie neugeboren diese unschätzbare Anstalt, so tat sich ihm, wenn er nicht wusste, wo er hier in der Etappe seine Freizeit verbringen sollte, das Tor eines anderen Hauses auf, dessen Schaffung man als soziale Kriegstat ansehen darf, wenn auch später die Entwicklung der Verhältnisse im Kriege ihre segensreiche Wirkung stark beeinträchtigen mochte. Es war das Kriegsheim. Dieses Haus verdankte seine Entstehung der Erwägung, dass unseren Soldaten, wenn sie einmal des schweren Kriegsdienstes ledig waren, eine Stätte geboten werden musste, wo sie ohne Aufwendung nennenswerter eigener Mittel sich nach ihrer Art vergnügen konnten. Es war in den ersten Abendstunden, als uns Major v T., der dieses Haus besonders ins Herz geschlossen zu haben schien, durch die Räume führte. Der Zustrom unserer braven Feldgrauen war groß, und es war nur schade, dass das Haus nicht zweimal so viele Leute fasste, als es tat. Denn an Gästen würde es nicht gefehlt haben. In einem größeren, saalartigen Zimmer saßen die Tapferen bei Bier und kaltem Aufschnitt und sangen ihre Lieder, dass es nur so schmetterte. Auch das begleitende Klavier fehlte nicht. In den Nebenräumen vergnügten sich die einen bei Karten-, Schachspielen und dergl., während andere wieder mit Karten- und Briefschreiben an ihre Lieben daheim beschäftigt waren. Allen aber sah man es an, dass sie sich hier daheim fühlten und dankbar dafür waren, ein Stück deutsche Heimat im fremden Lande gefunden zu haben.

Am Abend dieses Tages waren wir beim Etappeninspekteur zu Gaste. Auf den dringenden Rat unserer militärischen Betreuer suchten wir jedoch früher als sonst unsere Quartiere auf, denn der kommende Tag sollte ja das große Ereignis für uns werden und uns in die vordersten Linien zu den Braven im Schützengraben bringen. Da hieß es zeitig heraus aus den Federn, da wir gegen Tagesanbruch bereits in den Laufgräben sein sollten. Wir waren in Bürgerquartieren bei französischen Familien untergebracht, denen wir mit Offiziersquartierzetteln ins Haus geschickt wurden. Ich konnte mit meinem Loos, das ich mit dem Darmstädter Kollegen teilte, recht zufrieden sein, und auch von den andern hörte ich nur Gutes. Den Wirtsleuten merkte man zwar an, dass sie kein übermäßiges Vergnügen an der deutschen Einquartierung empfanden, aber sie waren immerhin korrekt und nicht unfreundlich. Um uns vor dem Verschlafen absolut sicherzustellen, war eine Patrouille beordert worden, uns Morgens um vier Uhr herauszutrommeln, was sie auch kräftig genug besorgte.

Nach einem kurzen Frühstück im Offizierskasino gings in sausender Fahrt zur Stadt hinaus und durch die dunkle Nacht der eigentlichen Kampflinie entgegen. In Hamm erwartete uns eine Anzahl Offiziere vom Generalkommando des XVIII. Armeekorps, dessen Gäste wir an dem Tage sein sollten. Einigermaßen erstaunt vernahm ich, kaum dass wir gehalten, den Ruf: „Wo ist der Münchner?“ Ich meldete mich schleunigst zur Stelle und hatte das Vergnügen, zum ich weiß nicht wievielten Male einen engeren Landsmann begrüßen zu können, Herrn Major v. Poschinger, der davon gehört hatte, dass sich unter dem Federvolk auch ein Münchner befände, dem die Hand zu schütteln er nicht versäumen wolle. Wir teilten uns hier in zwei Gruppen, von denen die eine nach dem linken Flügel der Stellung des Korps, die andere nach dem Rechten sich wandte. Nach weiterer kurzer Autofahrt hielten wir – ich war bei der linken Gruppe – in einem fast gänzlich zerschossenen Orte. Jetzt mussten die Wagen verlassen werden, da ein weiteres Vorkommen von Fahrzeugen ausgeschlossen war und hier die Laufgräben ihren Anfang nahmen. Der Einstieg erfolgte noch im Schutz der Mauertrümmer der Ortschaft. Dann ging es im Gänsemarsch in endlosen Schlangenlinien durch den überall gut über mannstiefen Graben. Da und dort zweigten wieder seitwärts Gänge ab, und wer nicht gut Bescheid wusste, konnte sich in diesem Labyrinth heillos verlaufen. Ganz unmerklich fast gelangte man in den eigentlichen Schützengraben, wo eine beinahe feierliche Stille herrschte.

Es mochte etwa um die siebente Morgenstunde sein, und das war, wie man uns sagte, die Zeit, wo die Franzosen am manierlichsten waren. Nur hin und wieder hörte man einen Gewehrschuss. Artillerie war nur aus weiter Entfernung und auch nur vereinzelt vernehmbar. Aufmerksam und scharf beobachtend lugten die Posten am Gewehr von Zeit zu Zeit durch die Schießscharten zum Gegner hinüber, dessen Gräben nicht weiter als 300–500 Meter nach Vorne lagen. Mit den vorhandenen Vorrichtungen konnte man das Gelände recht gut übersehen. Auch durch die Schießscharten guckten wir ab und zu neugierig, wie der Pressemensch nun einmal ist, aber wenn es zu lange dauerte und wir die Stahlblenden weiter als unbedingt nötig zurückschoben, mahnten unsere besorgten militärischen Begleiter alsbald: Bitte, meine Herren, wir wollen weitergehen. Die Franzosen hatten nämlich die üble Gewohnheit, sobald sie an einer Scharte das Zurückschieben der Blende beobachteten, was ihren Scharfschützen mit den guten Zielfernrohren wohl möglich war, eine oder auch mehrere Kugeln dort anzubringen. Unter Umständen eine unangenehme Sache.

Da der Himmel uns zu unserm Schützengrabenbesuch einen wunderschönen Tag beschert hatte, lernten wir diesen viel besprochenen, beschriebenen und bedichteten Aufenthaltsort unserer Feldgrauen nur von der besten Seite kennen. Sie hatten ihn übrigens auch tadellos hergerichtet, so dass er wohl auch nicht allzu arg ausgedehnten Regenperioden gut standzuhalten vermochte. Der Boden war fast überall mit Ziegelsteinen von zerstörten Häusern gepflastert, und in Abständen waren Wasserablauflöcher, mit Lattengittern gedeckt, vorhanden zur Aufnahme des Regenwassers. Die Wände der Gräben waren an vielen Stellen mit feinen Drahtgittern bespannt, zuweilen noch mit Kiefernzweigen unterlegt, um bei schlechten Wetter das Abrutschen und Einstürzen der Wände zu verhindern und auch, damit beim Anstreifen die Leute weniger Lehm an den Kleidern mit forttrugen. Auf Ordnung und Sauberkeit wurde nämlich damals im Schützengraben sehr gesehen. Bezeichnend dafür fand ich namentlich eine Tafel mit der Aufschrift: Nicht in den Graben spuken! Das war, wie uns versichert wurde, im Gegensatz zu manchen sonstigen Inschriften, die dem gesunden Humor der wackeren Grabenverteidiger das beste Zeugnis ausstellten, durchaus ernst gemeint. Sehr bemerkenswert in dieser Beziehung erschien mir auch die Anlage der Latrinen, die allen hygienischen Anforderungen nach der gegebenen Sachlage entsprachen und geradezu peinlich sauber gehalten waren.

Zur Verschönerung ihres einförmigen Schützengrabendaseins hatten Naturfreunde unter den Lehmhöhlenbewohnern da und dort schon Miniaturgärtchen angelegt, in denen wir Ende März 1915 bereits blühende Frühlingsblumen fanden. Blumen im Schützengraben, bitte, was will man noch mehr! Vor der „Villa“ des Bataillonskommandeurs, in dessen Stellung wir uns herumtrieben, war sogar eine niedliche Laube mit Moosbank und blumengeschmückten Tisch errichtet, auf dem der liebenswürdige Hausherr uns aus den Schätzen seines Wigwams ein Gläschen Steinhäger kredenzte. Nach mehr als dreistündiger Wanderung verließen wir bei einem zerstörten Dorfe den Graben. In dem mindestens 6 m unter der Erde gelegenen, engen und feuchten Kellergewölbe eines zusammengeschossenen Hauses hatte hier der Regimentsstab Unterkunft gefunden. Darin bot uns der Kommandeur des Regimentes – es war; wie ich früher schon erwähnte, das 81. Inf. Reg., Garnison Frankfurt a. M. – einen kleinen Imbiss, der wohl allen, die daran teilnahmen, ob der seltsamen Umstände im Gedächtnis geblieben sein wird. Da saßen wir bei Lampenschein um einen runden Tisch und tranken auf das Wohl und den Sieg des Regimentes. Im Hintergrunde des Raumes standen die Betten des Kommandeurs und seines Adjutanten, und in einem kleinen Seitengelass hatten die Burschen sich ihr Lager zurechtgerichtet.[15]

Nach herzlicher Verabschiedung bestiegen wir wieder die Autos. Unterwegs sahen wir uns noch die Unterkunftsräume eines Divisionsstabes und ein Truppen-Winterlager an. Zwischendurch waren wir Zeugen einer Fliegerbeschießung d. h. der Beschießung eines hoch fliegenden deutschen Flugzeuges durch französische Abwehrgeschütze. Die harmlos erscheinenden weißen Wölkchen, die die Sprengpunkte von Schrapnells andeuten, kamen dem deutschen Flieger, so hatte es wenigstens den Anschein, oft sehr nahe, und wir waren froh, als er schließlich unserm Auge entschwand. Mittags setzten uns die Autos bei einem Schlösschen ab, in dem der kommandierende General des XVIII. Armeekorps sein Quartier aufgeschlagen hatte und wo wir als Gäste die gewohnte freundliche Aufnahme fanden. Im Salon dieses Schlosses waren zwei Merkwürdigkeiten zu sehen: Bronzebüsten deutscher Kaiser und zwar des ersten und des zweiten Wilhelm, nicht etwa von der deutschen Einquartierung dahin gebracht, sondern vom französischen Besitzer hinterlassen. Büsten deutscher Kaiser dürfte man doch wohl sonst nicht allzu häufig in französischen Schlössern angetroffen haben.

Wir kamen am Nachmittag so frühzeitig wieder in St. Quentin an, dass wir noch Muße hatten, auf einige Stunden, jeder nach seinem Belieben und auf eigene Faust Entdeckungsreisen durch die Stadt zu machen. Natürlich wimmelte es überall von Feldgrauen, die hier nicht nur den Ton, sondern auch die Farbe angaben. Als ich an einem Bierrestaurant am großen Stadtplatz vorüberkam, vernahm ich plötzlich zu meiner nicht geringen Verwunderung einen vierstimmigen deutschen Männerchor. Der Fall musste untersucht werden. Ich betrat das dicht mit deutschen Soldaten gefüllte Lokal, suchte mir ein freies Plätzchen, bestellte und bekam Münchner Bier und knüpfte dann mit meinem Nachbarn, wie sich herausstellte, einem Münchner Zahlmeister, der aus Urlaub von zu Hause kam und mit dem nächsten Zuge zu seiner Truppe westwärts weiterfuhr, ein Gespräch an. Was es mit den Sängern für eine Bewandtnis hätte? Das ist der Laoner Männergesangverein (von der deutschen Besatzung Laons) ward mir Bescheid. Der komme öfter einmal herüber, Gastrollen zu geben. Und der Gesang war gar nicht übel. Deutscher Männerchor mitten im Krieg mitten in Feindesland! Ja, die „Barbaren“ machten noch tollere Sachen. An den Straßenecken von St.Quentin fand ich ein Plakat angeschlagen, in dem ein kunsthistorischer Vortrag von einem berühmten deutschen Professor angekündigt war, und zur gleichen Stunde fast, da ich in dem Restaurant saß und den Weisen der Deutsch-Laoner lauschte, fand in der Kathedrale von St. Quentin ein Kirchenkonzert statt, dessen künstlerische Kosten in erster Linie eine bekannte deutsche Sängerin, Frau Braunfels aus Köln, und Kapellmeister Stein bestritten, die beide im Dienste des Roten Kreuzes an der Front wirkten.

Durch Belgien

Es war ein herrlicher Palmsonntag-Morgen, an dem unser Sonderzug uns von St. Quentin durch die gesegneten Gefilde des Sambretales gen Belgien trug. Unmittelbar vor Maubeuge bogen wir links ab, und unsere Fahrtrichtung ging nun direkt nordwärts durch das Industriebecken von Mons, dessen Landschaft durch riesige Schlackenpyramiden ihr Kennzeichen erhielt. Mittags erreichten wir die belgische Hauptstadt Brüssel, wo uns im Hotel Astoria ein ausgezeichnetes Quartier bereitet war. An den Krieg erinnerten in Brüssel nur die deutschen Soldaten und die öffentlichen Speiseanstalten, die soupes communes, in denen Bedürftige ein kärgliches Essen erhielten und zu denen mancher, seinen Hunger zu stillen, die Schritte lenken musste, der sich vor dem Kriege solches nicht hätte träumen lassen. Und  eine kriegerische, wenn auch stumme Sprache redeten freilich zu den Brüsselern, einem ebenso leichtlebigen wie leicht erregbaren Völkchen, recht eindringlich auch die Kanonen, die von der Rampe des hoch und beherrschend über der Stadt thronenden Justizpalastes drohend auf das Straßengewimmel hinabschauten und von grimmig dreinblickenden Posten in liebevolle Obhut genommen waren. Im Justizpalast selbst hatten sich Feldgraue häuslich eingerichtet, und der als Mannschaftsraum dienende große Schwurgerichtssaal bot in dieser Verfassung einen seltsamen Anblick. Am ersten Abend in Brüssel waren wir Gäste des Generalgouverneurs im Palasthotel. Dabei kam es zu einem aufregenden Zwischenfall. Der Kollege Reismann-Grone von der Rhein.-Westf. Ztg. hatte zum Tischnachbar einen zum Generalgouvernement kommandierten Reserveoffizier, der in seinem Beruf Universitätsprofessor, politisch links eingestellt und in diesem Sinne auch schriftstellerisch tätig und bekannt war. Reismann-Grone[16] war in seiner politischen Einstellung ungefähr der Antipode seines Nachbars. Die beiden gerieten im Laufe des Essens in ein immer lebhafter werdendes politisches Gespräch, das aber von den anderen, die selbst in angeregtem Gedankenaustausch waren, zunächst nicht besonders beachtet wurde. Auf einmal jedoch sprang Reismann-Grone, so wie so Choleriker von Temperament, mit einem förmlichen Löwengebrüll von seinem Sitze auf und machte Miene, seinem Gesprächspartner handgreiflich an den Kragen zu gehen. Allgemeine Aufregung. Die Zunächstsitzenden sprangen rasch hinzu und drängten sich zwischen die Streitenden. Es bedurfte längeren, Zuredens, ehe es gelang, die beiden Kampfhähne einigermaßen zu beruhigen.

Die Stimmung war natürlich für den Rest des Abends verdorben, und so kam es zu einem früheren Aufbruch, als ursprünglich vielleicht gedacht war. Der Münchner Stadtarchivar und bayerische Landtagsabgeordnete Dr. Pius Dirr, im Kriege als  Hauptmann der Landwehr zuerst Führer einer Maschinengewehrkompagnie, dann ebenfalls zum Generalgouvernement in Belgien kommandiert, machte mir den Vorschlag, mit ihm noch sein Stammlokal, den „König von Spanien“ aufzusuchen, allwo man Münchner Hofbräubier schänkte. Das muss für den bayerischen Staat ein ganz gutes Geschäft gewesen sein. Denn der „König von Spanien“ war damals, wie man mir sagte, das einzige Lokal in Brüssel, das über die allgemeine Polizeistunde hinaus offen halten durfte und von deutschem Militär, sonderlich Offizieren, sehr stark in Anspruch genommen war. Als wir nach ein Uhr Nachts von dort endlich aufbrachen, meinte mein guter Dr. Dirr, es sei wohl nicht notwendig, dass er mich begleite, ich fände mein Hotel ja wohl so sehr leicht. Ich hätte es auch leicht gefunden, wenn ich auf dem nächsten Wege dahin hätte gehen können bzw. dürfen, nämlich am Justizpalast vorbei und die Hauptstraße hinunter bis zum Astoria. Aber die Hauptstraße war militärisch gesperrt, und so musste ich mir, einen großen Bogen schlagend, meinen Weg durch vollständig unbekannte Stadtgegenden selbst suchen. Gegen zwei Uhr Nachts erreichte ich auch glücklich mein Hotel. Aber es war doch eine recht unheimliche Wanderung durch die dunklen nur ganz notdürftig beleuchteten menschenleeren Straßen der großen feindlichen Stadt gewesen. Auf dem etwa dreiviertelstündigen Wege war mir außer einer deutschen Patrouille auch nicht eine Menschenseele begegnet.

Für den zweiten Tag unseres Aufenthaltes in Belgien hatte man uns ein besonders interessantes Programm zusammengestellt. Schon der erste Punkt konnte den Zeitungsmenschen elektrisieren. Er hieß nämlich Löwen.[17] Was war damals schon über diesen Ort und sein Schicksal zusammengeschrieben und gesprochen worden! Und nun sollten wir uns mit eigenen Auge überzeugen, wie viel Wahres und Falsches daran gewesen. Es war wieder ein wunderschöner, wenn auch kalter Tag, als wir in Autos durch stundenweit ausgedehnte, wohlgepflegte Parkanlagen der alten Universitätsstadt zustrebten. Was noch von ihr übrig und unversehrt war – und das waren etwa fünf sechstel der Stadt – machte nicht einen übermäßig imponierenden Eindruck auf uns. Erschütternd aber war der Anblick des Trümmerfeldes das sich von der Mitte der Stadt gegen den Bahnhof hinzog und aus der wie ein Fels aus dem Meere, äußerlich so gut wie unbeschädigt, das prächtige Rathaus emporragte. Es schien dem Laien unbegreiflich, wie es möglich war, dass dieser wundervolle Bau inmitten der ringsherum wütenden Zerstörung heil und unangetastet bleiben konnte. In der Bahnhofstraße begann bekanntlich der Überfall auf die deutschen Soldaten und in der Nähe des Bahnhofes war auch unsere Artillerie aufgefahren, die den Löwenern das verdiente Strafgericht bereitete. In dem Zierrondell auf dem Bahnhofplatz haben 1914 die deutschen Opfer jener Schreckenstage in einem gemeinsamen Massengrabe ihre letzte Ruhestätte gefunden. Was aus ihr nach dem Kriege geworden ist, weiß ich nicht.

Von Löwen ging es auf der meist schnurgeraden Straße nach Mecheln[18], dessen berühmte Kathedrale mit ihrem charakteristischen Turm in der Ebene weithin sichtbar ist. Hier war Mars mit seinem schweren Tritt des Weges gezogen. Dafür legte fast jedes Dorf, durch das wir kamen, durch grauenhafte Bilder der der Zerstörung Zeugnis ab. Alles von den Belgiern, wenn nicht selbst angerichtet, so doch wenigstens selbst verschuldet. Auch der herrliche gothische Bau der Kathedrale von Mecheln ist durch belgische Granaten übel zugerichtet worden, wenn auch der Schaden nicht unbehebbar war. Nicht mehr zu ersetzen freilich waren die wertvollen alten Glasmalereien der hohen Spitzbogenfenster. Denn da war wohl nicht eine Scheibe ganz geblieben. Mit den Scherben trieben damals, 1915, Bewohner Mechelns einen schwungvollen Handel, wie die Belgier es überhaupt recht gut verstehen, auch für sie unangenehmen Dingen eine gute Seite abzugewinnen.

In der Gegend hinter Mecheln fing nach einiger Zeit die bislang fast immer schnurgerade Straße an, sich in auffälligen Windungen hinzuschlängeln. Da war das Anzeichen, dass wir uns dem äußeren Ring der Antwerpener Befestigungen näherten. Auch noch andere Dinge kündeten das: glatt vom Erdboden wegrasierte Ortschaften und Bäume. Sie hatten verschwinden müssen, um den Forts freies Schussfeld gegen die heranrückenden Deutschen zu schaffen. Bei den Ortschaften war das Niederlegen so gründlich besorgt, dass nur auf dem flachen Erdboden hie und da zerstreut herumliegende Ziegelsteine das vormalige Dasein menschlicher Siedlungen verrieten. Und doch war das alles umsonst gewesen. Mit neun Schüssen wurde eines der größten Forts der stärksten Festung der Welt, als Antwerpen ja unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg galt, erledigt. Wir haben dieses Fort besichtigt und konnten uns durch Augenschein von den Wirkungen dieser neun Schüsse überzeugen. Betonblöcke und Panzerkuppeln von geradezu ungeheuren Ausmaßen waren samt den in ihrer Deckung aufgestellten schweren Geschützen in wenigen Minuten in einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt worden. Die Geschützbedienung lag im März 1915 noch unter diesen Trümmern begraben. Denn um ein solches Chaos zu entwirren, bedurfte es schwerer Kränen, die herbeizuholen und aufzustellen man sich bis dahin begreiflicherweise noch nicht Zeit und Mühe hatte nehmen können. Mit so einem modernen Fort ist es übrigens eine merkwürdige Sache. Man sieht so gut wie nichts davon, solange man nicht unmittelbar davor steht, und auch dann ist noch nicht viel zu sehen. Von dem inneren Fortgürtel hätten wir im Vorbeifahren kaum etwas bemerkt, wenn man uns nicht eigens darauf aufmerksam gemacht hätte.

In der Stadt Antwerpen waren die Spuren der Belagerung verhältnismäßig gering. Wenn man nicht gerade unmittelbar an den wenigen zerstörten Häusergruppen vorbeikam, glaubte man sich keineswegs in eine Stadt versetzt, die vor Kurzem erst eine schwere Belagerung durchgemacht hatte. Als unsere Wagen vor dem Hotel Weber, demselben, das nach falschen Berichten zu Beginn des Krieges gänzlich zerstört worden sein sollte, aber sich im März 1915 noch durchaus wohl befand, vorfuhren, sammelte sich im Nu eine große Menschenmenge, zum Teil recht zweifelhaftes Publikum, um uns an, das uns mit nichtsweniger als freundlichen Blicken musterte, bis die einheimische Polizei, die hier wie in Brüssel von der deutschen Verwaltung im Amte belassen worden war, den Leuten Füße machte. Nach dem Mittagessen fuhren wir durch das ganze gewaltige Hafengebiet, das sich kilometerweit an der Schelde hin dehnte. Antwerpen hatte, bekanntlich in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg Hamburg den Rang als erster Hafenplatz des Kontinents streitig gemacht, und in Friedenszeiten musste hier ein ungeheurer Verkehr geherrscht haben. Jetzt standen die riesigen Schuppen größtenteils leer, die Kai’s waren verödet, und den Scheldestrom durchquerte nur hin und wieder ein militärischen Zwecken dienendes Fahrzeug. Die vom Kriege hier überraschten deutschen Ozeandampfer, deren Maschinen unsere lieben Freunde, die Engländer, vor ihrem unfreiwilligen Abzug aus Antwerpen schnell noch unbrauchbar gemacht hatten, führten nun an ihren Liegeplätzen im Hafen ein beschauliches Dasein. Antwerpen war das, was es war, nur Dank dem deutschen Hinterlande geworden.

Der nächste Tag, der letzte unseres Feldzugsprogramms, war jedem einzelnen zur freien Verfügung überlassen, und wir benutzten ihn dazu, uns Brüssel am Werktag noch eingehender zu besehen. Nach einer mehrstündigen Wanderung durch das ungemein belebte Zentrum der Stadt und über die um diese Tageszeit noch stilleren Boulevards trat ich in ein Bierrestaurant, um ein kleines Frühstück einzunehmen. Der Kellner, der mich bediente, sprach geläufig deutsch, war aber ein Belgier, doch anscheinend einer von der verständigeren Sorte. Er erklärte ganz offen, nachdem ich ein politisches Gespräch mit ihm angeknüpft hatte, das Verhalten Belgiens zu Beginn des Krieges für eine große Dummheit und gebrauchte, um das recht drastisch zu machen folgenden gar nicht üblen Vergleich: „Sehen Sie, Herr“, sagte er, „das ist so: Wenn die großen Hunde miteinander raufen, sollen die kleinen Kläffer wegbleiben, sonst ergeht es ihnen, wie es uns jetzt ergangen ist.“ Politische Logik des einfachen Mannes, aus der auch Staatsmänner etwas lernen könnten.

Mit dem Abendschnellzug dieses Tages verließen wir Brüssel. Man hatte uns wieder wie bei der Hinfahrt nach Charlville zwei Abteile erster Klasse reservieren lassen, eine Aufmerksamkeit, die wir gerade hier besonders angenehm und dankbar empfanden, da der Zug fürchterlich überfüllt war. Als wir etwa zehn Minuten vor Abgang des Zuges am Bahnhof ankamen und unsere Plätze einnehmen wollten, hatte sich in dem einen Abteil ein General mit einem recht umfangreichen Gepäck und einem Hunde bereits häuslich eingerichtet und sichs in einer behaglichen Fensterecke bequem gemacht. Wir erlaubten uns, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die beiden Abteile doch, wie zwei kaum zu übersehende Plakate deutlich genug anzeigten, belegt seien. Das Zivilpack machte dem Herrn General aber offenbar wenig Eindruck, jedenfalls traf er keinerlei Anstalten, den Platz zu räumen. Wir waren als friedliche Menschen schon geneigt, uns mit dem Herrn General, wenn es auch nicht leicht war, so gut als eben möglich einzurichten, da erschien unser Hauptmann Mentor auf der Bildfläche, legte sich also gleich ins Mittel und machte sehr höflich, aber auch sehr bestimmt den hohen Herrn darauf aufmerksam, dass die Abteile vom Großen Generalstab für seine Gäste, nämlich die Herren der Presse, belegt seien. Das veranlasste den Herrn General nun doch, seinen Burschen herbeizuzitieren und das Abteil räumen zu lassen. Aber wenn Blicke töten könnten, dann wären wir sicher nicht mehr lebendig nach Deutschland zurückgekommen. Auch sonst fiel noch mancher begehrliche Blick von Militärs, die obdachlos die Wagengänge auf und ab irrten, in unsere behaglichen Zivilistenzelte. Aber unser trefflicher Hauptmann Neumann wachte mit Argusaugen darüber, dass die seiner Obhut anvertrauten Presseschäfchen nicht gestört wurden. Gegen Mitternacht erreichten wir Köln, wo wir die letzte Übernachtungsstation machten. Dann begann die Abbröckelung unserer Reisegesellschaft. Nach allen Windrichtungen des Reiches eilten die Teilnehmer von hier aus der Heimat zu um eine kostbare Lebenserinnerung reicher geworden.

Hinten, weit in der Türkei

Anfang Januar 1916 erreichte mich eine Einladung des stellv. Generalstabes zu einer Balkanreise deutscher Pressevertreter. Durch die Eroberung Serbiens war die direkte Schienenverbindung zu unseren bulgarischen und türkischen Freunden auf dem Balkan wiederhergestellt. Am 22. Januar 1916 sollte der erste Orient- oder Balkan-Express, wie er offiziell genannt wurde, den regelmäßigen durchgehenden Verkehr Berlin- bzw. München – Wien – Budapest – Belgrad – Sofia –Konstantinopel wieder aufnehmen. An dieser Fahrt teilzunehmen, waren sieben führende deutsche Presseleute aufgefordert worden, nämlich

Chefredakteur Runge von der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung

Chefredakteur v. Eckart des Hamburger Fremdenblatt,

Chefredakteur Lier, Dresden

Chefredakteur Scheel, Mannheim,

Chefredakteur Keil, Stuttgart,

Redakteur Heinz Simon von der Frankfurter Zeitung und

meine Wenigkeit.

Gegen 10 Uhr Vormittags am festgesetzten Tage verließ der süddeutsche Teil des Zuges München. Schon vor der Abreise hatten wir am Münchner Hauptbahnhof eine sehr gründliche Zollrevision durchmachen müssen, wobei es zu einem peinlichen Auftritt kam. Eben als ich das Zollrevisionslokal betrat, war dort eine aufgeregte Auseinandersetzung zwischen einem der Beamten und einem Herrn im Gange, in dem ich alsbald den Dichter Ludwig Ganghofer erkannte Ganghofer wollte sich den Anordnungen des Beamten, der die Öffnung seines ziemlich großen Gepäcks von ihm verlangte, nicht fügen.

Er berief sich darauf, dass er vom Kaiser nach Nisch[19] eingeladen sei und dass er selbstverständlich auf einer solchen Reise nichts Unrechtes mit sich führe. Deshalb halte er es auch nicht für nötig, hier sein ganzes Gepäck bis in’s Kleinste durchsuchen zu lassen. Der Beamte hinwiederum berief sich auf seine Pflicht, die ihm gerade für den heutigen Fall genaueste Durchsuchung des Gepäcks der Reisenden vorschreibe. Dabei könne er für Herrn Ganghofer keine Ausnahme machen. Ganghofer gebärdete sich furchtbar aufgeregt, drohte sogar damit, dass er sich beim Kaiser beschweren werde, verstand sich nach langem Hin und Her und nachdem der Beamte ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er ohne die verlangte Revision nicht mit dem Zuge werde abreisen können, schließlich doch dazu, seine Koffer zu öffnen und die Durchsuchung vornehmen zu lassen. Allerdings nicht ohne dass er brummend weiterschimpfte und protestierte. Inzwischen hatte ein anderer Beamter nicht nur mein Gepäck, sondern auch noch das zweier anderer Reisender abgefertigt. In dem mir zugewiesenen Abteil traf ich bereits den Stuttgarter Kollegen, mit dem ich es zu teilen hatte.

Der Zug war noch nicht richtig in Bewegung, so begann schon eine erneute hochnotpeinliche Prüfung unserer Papiere und Habseligkeiten, diesmal durch Polizeibeamte. Als wir auch das glücklich hinter uns gebracht, konnten wir uns endlich mit Ruhe und Überlegung dem Hochgefühl hingeben, zu den wenigen auserwählten Fahrgästen des ersten direkten Balkanzuges im Kriege zu gehören. Draußen an den Stationen, die wir durchflogen, hatten vielfach Menschenmassen sich eingefunden, die Zeugen des historischen Ereignisses sein wollten und den vorbeibrausenden Zug jubelnd begrüßten. Namentlich in der Traunsteiner Gegend war das Interesse besonders lebhaft, und mehrfach hatte die Schuljugend unter Führung ihrer Lehrer mit Fähnchen in den Farben der vier verbündeten Reiche längs der Strecke Aufstellung genommen. Es mag wohl eine eindrucksvolle Geographie- und Geschichtsstunde für diese Kinder gewesen sein, namentlich wenn der Lehrer, was ja ohne weiteres anzunehmen ist, nicht versäumt hat, ihnen über die Bedeutung dessen, was sie sahen, eine kurze Erläuterung zu geben.

Besonders hoch ging es in Salzburg her, wo auf der festlich geschmückten und mit einer begeisterten Menschenmenge angefüllten Bahnhof schmetternde Militärmusik den einfahrenden Zug mit den Nationalhymnen der vier Verbündeten empfing. Als man Wien erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen. Es erfolgte die Vereinigung mit dem Berliner Zug, der über Dresden gekommen war, so dass wir das Abendessen bereits mit den norddeutschen Berufsgenossen und dem ihnen und uns beigegebenen militärischen Begleiter einnehmen konnten. Gegen Mitternacht passierten wir Budapest, und das übrige Ungarn verschliefen wir.

Als wir beim Morgengrauen des nächsten Tages aus den Betten krochen und neugierig durch die Fenster äugten, da bot sich uns von Semlin aus ein herrlicher Blick über den mächtigen Savestrom hinweg auf das gegen das Morgenrot wundervoll sich abhabende Belgrad. Die von den Serben zerstört große Savebrücke war schon wieder instandgesetzt und konnte von allen Zügen, wenn auch nur langsam, befahren werden. Der Belgrader Bahnhof wurde wie die ganze Bahn im nördlichen Serbien von Österreichern und Deutschen gemeinsam in Betrieb gehalten. In Belgrad sollte unser bisheriger Speisewagen, der in Budapest nachts abgehängt worden war, durch einen neuen ersetzt werden.

Der war aber aus irgendeinem Grunde nicht zur Stelle. Und so gab’s an diesem Tage eben kein Frühstück, und auch das Mittagessen stellte sich erst mit reichlicher Verspätung, nämlich Nachmittags um drei Uhr ein, nachdem endlich in Nisch sich der für uns bestimmte Speisewagen vorgefunden hatte. Ich selbst hatte im Zuge einen rettenden Schutzengel, einen Münchner Bekannten, den dortigen österreichischen Konsul, der die Reise mitmachte und sich vorsichtigerweise gut verproviantiert hatte. Er teilte seine Schätze mit mir und meinem Abteilpartner. Und ich muss sagen, ein kaltes gebratenes Hendel schmeckt zusammen mit einer Flasche Rotwein zum Frühstück auch nicht schlecht, und man kann es dann zur Not bis Mittags um drei Uhr aushalten.

Die Fahrt durch Serbien war zur damaligen Winterszeit in ihrem ersten Teil ziemlich einförmig. Was das deutsche Auge vor allem vermisste, das waren richtige Bäume und richtige Wälder, wovon wir auf dieser Orientfahrt recht wenig zu sehen bekamen. Einige Gegenden Serbiens, durch die wir kamen, so im Morawa[20]– und im Nisawatale, wiesen nicht unbedeutende landschaftliche Schönheiten auf. Schlimm muss es mit den Wegeverhältnissen in Serbien bestellt gewesen sein, soweit man von Wegen überhaupt sprechen konnte. Was wir da zu Gesichte bekamen, das waren Pfützen und Moräste, die nur durch ihre fortgesetzte Dehnung in die Länge den Charakter der Straße ahnen ließen. Dass hier das Nachschubwesen, soweit es nicht von der in ihrer Leistungsfähigkeit beschränkten eingleisigen Eisenbahn bewältigt werden konnte, mit ungeheuren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, sah auch das Auge des Laien auf den ersten Blick. Die Feldgrauen, denen man auf der Strecke begegnete, schätzten sich glücklich, Gruß und ein paar Worte mit deutschen Landsleuten austauschen zu können, und ihre erste Frage war immer die: Habt Ihr keine Zeitungen mit? Wir konnten sie leider nur mit österreichischen Zeitungen versehen, da die Mitnahme von deutschen Zeitungen, die natürlich höher im Kurse bei ihnen standen, nicht zulässig war aus Gründen, bis zu denen unser beschränkter Untertanenverstand nicht vorzudringen vermochte.

Spuren des Krieges waren, von Belgrad[21] und Umgebung abgesehen, auf der ganzen Fahrt durch Serbien nur verhältnismäßig wenig zu bemerken. Der Krieg hat sich offenbar in der Hauptsache in dem bergigen Gelände abgespielt, das bald näher an die Bahnlinie herantrat, bald aus blauender Ferne herüberwinkte. Nur durch die vorsichtig-langsame Fahrt über die vielen Brücken wurde einem zum Bewusstsein gebracht, dass nicht alles war wie in normalen Zeiten. Nisch, die sog. zweite Hauptstadt Serbiens, nach unsern Begriffen ein großes, reichlich schmutziges Dorf mit einigen ansehnlichen Staatsgebäuden, beherbergte zu jener Zeit ein militärisches Völker- und Sprachengemisch, wie man es selbst in diesem Weltkrieg, der so viel Ungewöhnliches erzeugte, nicht allzu oft angetroffen haben dürfte. Da wimmelten deutsche, österreichisch-ungarische und bulgarische Uniformen durcheinander, auch einzelne Türken tauchten auf, daneben serbische Gefangene, die zum Arbeitsdienst herangezogen wurden. Die Sprachen waren noch zahlreicher als die Uniformen, sogar bayerische Laute drangen aus dieser Brandung wie liebliche Musik an mein Ohr. Auf dem Geleise neben uns stand nämlich ein Zug mit bayerischen Leibern. Ich war bald, nachdem ich mich als Münchner zu erkennen gegeben, umringt von meinen bayerischen Landsleuten, die mich mit Fragen nach Daheim und nach dem Gang des Krieges bestürmten.

Bevor ich indes noch alle beantworten konnte, erscholl der Ruf unseres Zugführers zum Einsteigen. Rasch hinein in den Wagen, und schon setzte sich der Zug in Bewegung, dem mancher sehnsüchtige Blick der wetterharten Krieger wie ein Stück Heimat liebevoll umschloss und mit schmerzlichem Gefühl entschwinden sah. Wir drangen weiter nach dem Balkan vor. Der landschaftlich großartigste Teil der Strecke lag zwischen Nisch und Sofia. Stundenlang schlängeln sich Fluss und Eisenbahn zwischen senkrecht aufsteigenden Felswänden dahin. Als wir die bulgarische Grenze überschritten, war es bereits Nacht. In Sofia war neben vielen bulgarischen, deutschen und österreichischen Offizieren auch Prinz Kyrill, ein sympathischer junger Mann, zum Empfang am Bahnhof erschienen.

Hinter Sofia wurde es im Zuge wieder still, denn alles hatte sich nach und nach in die Schlafkojen verzogen. Nach der zweiten Nacht beleuchtete die aufgehende Sonne eines prächtigen Wintertages die aus dem Morgendunst aufragenden Minarets und Kuppeln von Adrianopel[22]. Von da führte der Schienenweg durch eine gleichförmige, kahle Hügellandschaft. Menschliche Behausungen waren selten und dann armselig. Hütten aus Lehm und Stroh mit einer kleinen Moschee als einzigem gemauerten Gebäude in der Mitte: das war das türkische Bauerdorf. Ich habe in meinem Leben keine Gegend gesehen, die mir so öde erschienen wäre wie diese.

In Lüle Burgas[23], der bulgarisch-türkischen Grenzstation, schob man wieder einen neuen Speisewagen, diesmal vorne an unsern Zug. Wenn wir es nicht gesehen und daher so wie so gewusst hätten, so hätten wir es bald an den Hammelfettdüften gemerkt, die vom Speisewagen nach hinten durch die Wagengänge zogen. Wir näherten uns jetzt der durch die Kämpfe des ersten Balkankrieges im Jahre 1912 berühmt gewordenen Tschataldschalinie. Der so benannten Hügelkette war ein sumpfiger, zum Teil unter Wasser gesetzter Streifen Landes vorgelagert, der 1912 Türken und Bulgaren trennt.

Am Fuße der Hügelkette, nicht weit von der Bahnlinie, stand einsam eine kleine Moschee, in der seinerzeit der türkische und der bulgarische Befehlshaber zum Abschluss des Waffenstillstandes sich trafen. Der im Zuge mit uns reisende deutsche Militärattaché in Konstantinopel, Oberst v. Lossow, der spätere Wehrkreiskommandeur in München, der 1923 mit Kahr und Seißer im Bürgerbräukeller[24] die bekannte Rolle spielte, hielt uns im Speisewagen über die militärische Bedeutung der Tschataldschalinie einen kurzen aber sehr instruktiven Vortrag. Nebenbei sei hier noch bemerkt, dass die ganze ungeheuere Bahnstrecke von Deutschland bis zum Bosporus in einer Länge von weit über 2000 Kilometer militärisch bewacht war. In Sehweite von einander stand Posten an Posten, und so war eine lebendige Kette hergestellt vom Herzen Deutschlands in’s Herz der Türkei.

In Kütschück Tschekmedsche fand der erste offizielle Empfang durch eine türkische Abordnung statt. Es wurden ein paar kurze herzliche Reden ausgetauscht, der Girlanden- und Flaggenschmuck unserer Lokomotive erfuhr eine Erneuerung, und dann ging es der Stadt Konstantin des Großen entgegen.

Auf allen Stationen der Vororte und entlang den Geleisen waren gegen die Stadt zu immer größer werdende Menschenmassen versammelt, die den durchfahrenden Zug enthusiastisch durch Händeklatschen und Zurufe, stellenweise auch mit Musik und Fahnen begrüßten. Innerhalb der Stadt selbst war rechts und links der Bahn alles schwarz von Menschen, aus den Häusern winkten sie, die zahllosen Minaretts waren durch vielfache Kränze von Lichtern erhellt und gewährten einen entzückenden Anblick. Von der allgemeinen Freude wurden auch die Insassen des Zuges angesteckt. Wir winkten und grüßten durch Zurufe wieder nach allen Seiten, bis unser Zug plötzlich in einem Menschenmeer stillstand, aus dem Musik erschallte und tausend Hände und Arme sich grüßend uns entgegenstreckten.

Rührung drohte uns zu übermannen, als alles übertönend aus kräftigen deutschen Kehlen das liebe, herrliche „Deutschland, Deutschland über Alles“ zu unsern Ohren drang. Die deutsche Kolonie von Konstantinopel hatte uns am Tore Asiens damit bewillkommt. Talaat Bey[25], der türkische Innenminister, und sein Kollege vom Handelsfach, der Polizeichef und andere Würdenträger waren zum Empfang anwesend. Auch von den diplomatischen Vertretungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Bulgariens hatten sich zahlreich Herren eingefunden, und auch die deutschen Offiziere fehlt nicht. Man hatte ein Buffet aufgestellt, das den Ankömmlingen Labung bot. Dann verstaute man uns samt unserm Gepäck in die bereitstehenden Droschken, die uns über die große Galatabrücke hinauf nach Pera brachten, wo uns im Hotel Tokatlian Unterkunft bereitet war.

In Konstantinopel

Es gibt wohl wenige Städte auf der Welt, die einer so wundervollen Lage sich erfreuen wie die Hauptstadt der byzantinischen Kaiser und der osmanischen Sultane und Kalifen. Auf einem Hügelrücken, der sich als Halbinsel zwischen Marmarameer und Goldenes Horn hineinschiebt, baut sich die eigentliche Türkenstadt Stambul (Istambul) auf. Jenseits des Goldenen Horns dehnt sich das mehr europäisch anmutende Häusermeer von Galata und Pera die Hänge hinauf mit dem berühmten Turm von Galata als Wahrzeichen. Über dem Bosporus auf der asiatischen Seite schließt Skutari[26] mit seinen großen weiße Kasernen und dem aus dem Bosporus aufragenden Leanderturm davor das einzigartige, kolossale natürliche Rundgemälde ab. Um die überwältigende Schönheit dieses Bildes zur vollen Wirkung kommen zu lassen, bedarf es nur einer Zutat, die aber unter keinen Umständen zu entbehren ist: des Glanzes der Sonne. Wie der Orient seine Vorzüge und Schönheiten überhaupt nur im Sonnenlichte uns enthüllt.

Uns war die Sonne während der fünf Tage, die wir am Bosporus weilten, unentwegt hold, und so zeigte sich uns dieser herrliche Erdenfleck buchstäblich nur im besten Lichte. Aus dem kostbaren Schatz der Erinnerung an diese Tage greife ich das Beste, so wie es sich dem Gemüte mehr oder weniger tief eingeprägt, in bunter Reihe heraus. Den Höhepunkt bildete eine Bosporusfahrt mit der uns von der deutschen Botschaft zur Verfügung gestellten zierlichen kleinen Yacht „Pfeil“. Schon zeitig Morgens harrte das Schifflein unser, und bald ging’s in lustiger Fahrt den Bosporus hinauf, vorbei an den kaiserlichen Palästen von Dolma Bagtsche, Tschiragan, Ylidiz, und Salika Sultan, dicht besiedelten, zypressen- und pinienüberschatteten Hängen entlang, Europa zur einen und Asien zur anderen Seite, bis hinaus nach Anadolu Kavak dem Punkt, der den Ausgang ins Schwarze Meer auf der kleinasiatischen Seite flankiert. Kurz bevor wir ihn erreichten, machte der Führer unseres Schiffes, ein deutscher Marineoffizier, uns so ganz leichthin darauf aufmerksam, dass wir eben über die Minensperre hinwegführen, die uns aber nicht weiter zu genieren brauche, da ja unser Schifflein nur einen ganz geringen Tiefgang hätte. Trotzdem, das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen, ist nicht gerade behaglich. In Anadolu Kavak empfing uns eine Anzahl deutscher Offiziere mit dem Kommandanten der gesamten Verteidigungsanlagen an der Spitze, und unter ihrer Führung besichtigten wir die Werke. Ich hatte dabei den besonderen Vorzug, mich der Begleitung und der Gesellschaft des deutschen Marineattachés, Kapitän z. S. Humann[27] erfreuen zu dürfen, der ein besonderer persönlicher Freund des damals mächtigsten Mannes der Türkei, des Kriegsministers Enver Pascha[28], und außerdem ein warmer Freund und wirklicher Kenner der Türkei und ihrer Verhältnisse und der Sprache des Landes mächtig war. Wir stiegen hinauf zu dem alten Genueser Turm und den Überresten der mittelalterlichen Bollwerke, die dieser herrlichen Landschaft ein romantisches Gepräge verliehen, und genossen von oben den Blick hinaus auf die unendliche Fläche des Schwarzen Meeres und über das Land hinweg hinein nach Kleinasien. Hier schien Ende Januar schon der Frühling ins Land zu ziehen, die Hänge waren mit üppig sprossendem wilden Lorbeer bedeckt, und überall schaute das Auge freundlich-frisches Grün. Gut versteckt hinter schützenden Höhen hatten sich unsere Offiziere und Mannschaften zusammen mit den türkischen Freunden häuslich eingerichtet. Wir fuhren alsdann hinüber zum europäischen Ufer und ließen uns dort eine der schweren Batterien in Tätigkeit vorführen, und nach dem, was man uns gezeigt und gesagt, schieden wir mit der Überzeugung: hier kommt der Feind nicht durch. Die Russen waren davon auch offenbar selbst überzeugt. Denn sie haben einen ernsthaften Durchbruchsversuch überhaupt nie unternommen.

Inzwischen war es Mittag geworden, und wir fuhren zurück nach dem lieblichen Therapia, wo für uns in einem zu einem deutschen Soldatenheim umgewandelten kleinen Hotel ein Frühstück bereitstand. Mein Tischnachbar, ein deutscher Stabsarzt, der den ägyptischen Feldzug 1915 mitgemacht, würzte mir das treffliche Mahl mit der Erzählung seiner hochinteressanten Erlebnisse. Nachher suchten wir den einzigartigen Park auf, in dem die Sommerresidenz [29]der deutschen Botschaft sich befand und der dem deutschen Reiche seinerzeit von Sultan Abdul Hamid zum Geschenk gemacht worden war. Stundenlang hätte man in diesem Märchengarten, in dem man sich in eine Tropenlandschaft versetzt glaubte, lustwandeln können, ohne den gleichen Weg zweimal gehen zu müssen. Auf einer gegen den Bosporus vorspringenden Höhe, von der man einen entzückenden Ausblick die Meerenge hinauf und hinunter und hinüber nach Kleinasien hatte, neben dem Denkmal, das die Deutschen Konstantinopels seinerzeit hier dem großen Schlachtenlenker Moltke errichteten, hatten unsere Marineleute ihren Gefallenen unter Pinien und Zypressen eine stimmungsvolle Ruhestätte bereitet. Auch der ein Jahr zuvor verstorbene, um unsere Sache in der Türkei hochverdiente Botschafter Frhr. v. Wangenheim fand hier auf seinen ausdrücklichen Wunsch mit seinem Freunde, dem von einem tragischen Schicksal dahingerafften Oberst v. Leipzig eine Stätte für den letzten Schlaf. Einfache Kreuze trugen die Namen derer, die hier fern der Heimat ruhen oder sonst in der Türkei für das deutsche Vaterland ihr Leben hingaben, aber nicht hierher geschafft werden konnten. Entblößten Hauptes standen wir tief ergriffen an dieser geheiligten Stätte, einem Heldenhain, wie man sich stimmungsvoller ihn nicht denken könnte.

Von den toten eilten wir zu den lebenden Helden, den Männern, die auf der türkischen Flotte ihr Leben mehr als einmal für das Vaterland in die Schanze schlugen, auf dem mächtigen Panzerkreuzer „Göben“, der jetzt türkischen Namen „Sultan Jawus Selim“ führte, auf dem kleinen Kreuzer „Breslau“[30] (Midilli) und der Torpedobootsflottille. Auf „Göben“ waren die deutschen Seemänner versammelt, uns zu empfangen, und mit berechtigtem Stolz zeigten sie uns ihr gutes Fahrzeug, das schon so manchen Strauß ehrenvoll bestanden hatte und manche Spur des Kampfes aufwies. Vom großen Geschütz- und Kommandoturm kletterten wir hinab bis zu den Feuerschlünden, vor denen rußige Gestalten in nie erlahmender Pflichterfüllung die Schaufeln schwangen, die dem unersättlichen Glutrachen die Nahrung zuführten, welche dem Koloss Leben und Bewegung gab. Und dann saßen wir beim Kaffee in der Offiziersmesse zusammen mit den erfahrenen, mutigen Männern, und das Herz ging einem auf in dieser köstlichen Stunde. Es ist ein ganz eigener Geist, ein unerklärliches Etwas, das in diesen Flottenoffizieren steckte und das einen zwang, sie zu lieben vom ersten Augenblick an, da man in ihren Kreis getreten.

Wir schieden ungern von ihnen, aber es musste geschieden sein. Schon stieg rein und silberglänzend der Vollmond über den kleinasiatischen Bosporushöhen empor, als wir uns der Stadt wieder näherten, die bei der reizvollen Abendbeleuchtung mit den massigen Kuppeln und schlanken Minaretts ihrer vielen Moscheen ein unvergleichliches Bild darbot. Im Goldenen Horn bei dem früheren großen Ostafrikadampfer „General“, der nun dem deutschen Befehlshaber der türkischen Flotte, Admiral Souchon, als Wohnschiff diente, setzte unser „Pfeil“ uns ab. Der Admiral hätte die Freundlichkeit, uns im Kreise seines Stabes zu empfangen und ein halbes Stündchen bei einem Glas Punsch mit uns zu verplaudern. Der an Eindrücken so reiche Tag schloss mit einem Abend ab, den wir mit den in Konstantinopel ansässigen deutschen Landsleuten im deutschen Club Teutonia verbrachten. Dort lernte ich den Kollegen Schwedler kennen, der dazumal den „Osmanischen Lloyd“, ein in deutscher Sprache in Konstantinopel erscheinendes Blatt, redigierte. Er ist später wieder nach Deutschland zurückgekehrt und 1936 in Berlin gestorben.

Ein Ereignis namentlich für diejenigen unter uns, die es zum ersten Male sahen, war das Selamlik[31], die Auffahrt des Sultans zum Freitagsgebet. Wir hatten uns zeitig gegen Mittag im Hofe der Yildizmoschee eingefunden, das prunkvolle Schauspiel zu beobachten. Auch Marschall Liman von Sanders mit seinen beiden Töchtern und der türkische Kriegsminister, der jugendlich-geschmeidige Enver Pascha, waren erschienen. Vor dem Einfahrtstor zur Yildiz Kiöschk hatte die berittene Leibwache des Sultans mit rotgrünen Lanzenfänchen Aufstellung genommen. Türkisches Militär war aufgezogen mit Musik und zum Teil in neuen Stahlhelmen, die in der Form denen der alten römischen Fußsoldaten ähnelten. Nach einigem Warten erschien der Padischah im Staatswagen, und der glänzende Zug setzte sich den Berg herunter in Bewegung unter den Zurufen der Soldaten und den Klängen der einzelnen Musikkorps. Bei seiner Ankunft vor der Moschee begrüßten wir den Sultan durch Hutabnehmen, welchen Gruß er durch mehrmaliges eifriges Nicken und mit freundlichem Lächeln erwiderte. Dann entstieg er frisch und beweglich trotz seinem Alter und den Krankheiten, die er kurze Zeit vorher durchgemacht, seinem Wagen, winkte uns und den sonstigen Anwesenden noch einmal zu und begab sich in die Moschee. Sein Generaladjutant trat auf uns zu, um uns mitzuteilen, dass sein Herr ihn beauftragt habe, uns seinen Gruß zu entbieten und uns zu sagen, dass Seine Majestät sich gefreut habe, die Vertreter der deutschen Presse zu sehen.

Das Ende des Selamliks konnten wir nicht abwarten, da wir einer Einladung unseres deutschen Botschafters zum Frühstück im Cercle d’Orient Folge leisten mussten. Der Vertreter Deutschlands am Bosporus, Graf Wolff-Metternich, hatte schon am Tage nach unserer Ankunft uns auf der Botschaft empfangen, und von der Terrasse des hoch über der Stadt thronenden Botschaftsgebäudes hatten wir zuerst den unbeschreiblich schönen Blick auf den Bosporus und das untere Stambul genossen. Beim Frühstück im Cercle d’Orient saß ich zur Linken des Botschafters, der ein schon recht alter Herr und recht wenig gesprächig war. Einmal während des ganzen Essens neigte er sich zu seinem Nachbar zur Rechten hinüber, zu dem Kollegen Runge von der Nordd. Allg. Ztg., murmelte etwas zu ihm, was dieser, wie er mir nachher versicherte, nicht verstand, und nach einiger Zeit hatte er die Gnade, auch zu mir sich zu neigen und ebenfalls etwas zu murmeln, was ich nicht verstehen konnte. Damit war die Unterhaltung mit ihm für die Dauer des ganzen etwa einstündigen Beisammenseins beendet. Links neben mir saß der Botschaftsrat Frhr. v. Neurath[32], der später Botschafter in Rom und London, dann Außenminister des dritten Reiches und schließlich Protektor in Böhmen und Mähren wurde. Mit ihm unterhielt ich mich während des Essens aufs Beste, und er verriet mir dabei auch, warum sein Chef sich so wenig liebenswürdig und gesprächig gab. Von Berlin war nämlich, als man dort die Reise der deutschen Pressevertreter nach Konstantinopel plante, eine gutachtliche Äußerung des Botschafters dazu eingefordert worden, und er hatte davon abgeraten, offenbar weil er selbst mit Presseleuten nichts zu tun haben wollte. In Berlin aber hatte man sich dann an seinen ablehnenden Standpunkt nicht gekehrt und hatte die Reise trotzdem arrangiert. Und das hatte den alten Herrn stark verschnupft. Natürlich konnte er sich nun der Repräsentationspflichten als unser Vertreter in Konstantinopel doch nicht entziehen, aber beschränkte sich dabei auf das Allernotwendigste, und dass ihm auch dies alles andere als Freude bereitete, war aus seiner schon nahezu schroffen Zurückhaltung unschwer zu erkennen. Dafür nahmen sich die übrigen Herren der Botschaft, namentlich Herr v. Neurath, umso aufmerksamer unser an.

Viel Sehenswertes bot eine Wagenfahrt durch Stambul. Sie führte zunächst nach der Seraispitze, dem äußersten in’s Meer vorgeschobenen Punkt von Stambul. Das zweite Ziel war die ehrwürdige Aja Sofia, die Hauptmoschee von Stambul. Nachdem man uns mit den üblichen Filzpantoffeln versehen, da Niemand die Moschee mit Straßenstiefeln betreten durfte, nahmen wir das Innere des gewaltigen Baues in Augenschein. Über seine Schönheit und Bedeutung haben berufene Federn längst alles besser gesagt, als ich es zu sagen vermöchte. Wir kamen in den erhabenen Tempel gerade zur Gebetszeit, und da mich die Eigenheiten der religiösen Kulte von jeher stark interessierte, so richtete ich meine Aufmerksamkeit ganz besonders auf die Beter. Ich kann nicht umhin zu gestehen, dass der Ernst und die Würde, die der Mohammedaner[33] bei seinem Gebet bekundet, mir Achtung abnötigten und einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Für Melodie scheinen die Türken weniger Sinn zu haben. Das fiel sowohl hier wie bei den Märschen der Militärmusik wie auch im türkischen Theater auf, das wir besuchten und auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Wenn der Vorbeter in der Moschee nicht von Zeit zu Zeit in eine Art Kreischen verfallen wäre, so hätte ich gesagt, dass das Wechselgebet, das ich in der Aja Sofia hörte, mir einige Ähnlichkeit mit dem Psalmodieren in unserer katholischen Kirche zu haben schien. Als wir nachher in einer ziemlich halsbrecherischen Kletterei über die Dächer hinweg von Außen bis zur großen Kuppel emporstiegen, um von deren oberster Galerie aus einen Blick in das Innere des Gotteshauses zu werfen, riefen oder besser gesagt sangen eben von den vier Minaretts die Muezzins zum Gebet. Auch hier wieder der eigentümliche Tonfall, der wie Gesang anmutet und doch keiner ist, da die Melodie ihm fehlt.

Ich sprach vorhin vom Theater. Es war etwas primitiv dieses türkische Theater, in das man uns zur Generalprobe eines ins Türkische übertragenen französischen Stückes lud. Ein Holzbau – wie ja in Konstantinopel ein sehr großer Teil der Gebäude damals aus Holz aufgeführt war und wohl auch heute noch ist – im Foyer einige unmäßig überhitzte Kanonenöfen, die den Aufenthalt in ihrer Nähe geradezu gefährlich machten, der Zuschauerraum vollständig ungeheizt, so dass wir schleunigst unsere Mäntel requirierten, um nicht zu frieren. Die Vorstellung, der auch mehrere kaiserliche Prinzen sowie Minister anwohnten, begann mit einer etwa halbstündigen musikalischen Produktion zunächst eines aus Streich- und Zupfinstrumenten zusammengesetzten Orchesters, dem sich später noch ein gemischter Chor von Knaben und Männern zugesellte. Musik wie Gesang einförmig, schwermütig, wenig Melodie. Über das folgende Theaterstück ist wenig zu sagen. Stück und Darstellung atmeten ganz und gar französischen Geist. Gespielt wurde übrigens bemerkenswert gut. Dem Orientalen wohnt ja viel natürliches Talent zum Schauspieler inne.

Wer das Leben in einer orientalischen Stadt kennenlernen will, der muss im Basar gewesen sein. Denn dort spielt sich ein wesentliches Stück des Lebens einer orientalischen Stadt ab. So machten wir auch bei unserer Fahrt durch Stambul am Basar Halt und nahmen uns eine Stunde Zeit, in diesem Gewirr von gedeckten Gängen, in denen das geschäftliche Leben der Hauptstadt konzentriert war, umherzuschlendern. Man könnte sich tagelang hier aufhalten und würde immer neuen Stoff zu Studien über den Orient finde. Denn, wie schon angedeutet, der Basar ist ein charakteristischer Ausschnitt aus seinem Leben.

Es gehörte, wenigstens früher, zu den Seltenheiten, dass ein Türke einen Fremden in seine Wohnung lud. Mit umso größerer Freude und Dankbarkeit nahmen wir die Einladung eines türkischen Berufsgenossen in sein Haus und zur Besichtigung seines Betriebes an. Unser Freund Ahmed Ihsan war Herausgeber und Redakteur eines illustrierten türkischen Blattes, des „Servet i Founun“. Sein Haus stand auf der Höhe von Stambul. Er empfing uns mit seinem Schwiegersohn, der als Arzt in der türkischen Armee diente, bei den Dardanellen verwundet worden war und das Eiserne Kreuz sich erworben hatte. Er hatte in Deutschland studiert und sprach ziemlich geläufig deutsch. Ahmed Ihsan führte uns in seinem für türkische Verhältnisse recht gut eingerichteten Betrieb herum, dann wurden wir in seiner behaglich ausgestatteten Wohnung mit Tee und den in der Türkei obligaten Süßigkeiten in geradezu unendlicher Auswahl bewirtet. Auch Mokka und Zigaretten, die der Türke jedem Besucher anbietet, fehlten selbstverständlich nicht. Wir verlebten einige recht vergnügte und dabei doch lehrreiche Stunden im Hause dieses biederen türkischen Berufsgenossen.

Noch muss ich unseres Besuches auf der „Hohen Pforte“ gedenken, die weder eine Pforte noch hoch ist, sondern ein sehr einfaches Gebäude, in dem verschiedene Regierungsstellen untergebracht sind. Wir wurden zuerst vom Chef der Presseabteilung im Ministerium des Innern empfangen und, nachdem wir den gewohnten Mokka und die dazu gehörigen Zigaretten eingenommen, wurde eine Abordnung von uns zum Minister des Äußern Halil Pascha geführt, der die Herren mit der gleichen Freundlichkeit empfing, die uns überall in Konstantinopel Seitens der türkischen Behörden, mit denen wir in Berührung kamen, entgegengebracht wurde.

Ein Nachmittag war einer hübschen Fahrt mit der Botschaftsyacht das Goldene Horn hinauf bis Ejub und zu den sog. „Süßen Wassern von Europa“ gewidmet. Diese „Süßen Wasser“ bilden den aus Rumelien kommenden Zufluß ins Goldene Horn. Im Gegensatz dazu gibt es auch die „Süßen Wasser von Asien“ die von der kleinasiatischen Seite her in den Bosporus sich ergießen. In Ejub besichtigten wir die bekannte Moschee des Fahnenträgers des Propheten, deren Betreten Nichtmohammedanern früher streng verboten war. Zu der Zeit, als wir sie besuchten, wurde das schon milder gehandhabt, und wir konnten die Moschee, die zwar nicht groß, aber in ihrer Art ein Schatzkästlein ist, mit Muße besichtigen. Im Hofe steht ein uralter Baum, der anscheinend besondere Pflege und Verehrung genießt. In dem den Hof umsäumenden Säulengang verdienen um einen in die Mauerwand eingelassenen Brunnen gruppierte Fayencen Beachtung. Durch einen großen mohammedanischen Friedhof stiegen wir dann zur Höhe hinauf, um von dort die Aussicht auf das von großen und kleinen Schiffen wimmelnde Goldene Horn und die um diesen Meeresarm amphitheatralisch sich aufbauenden Stadtteile zu genießen. Die kleine Mühe lohnte sich reichlich. Etwa in der Mitte des Hanges auf der linken Seite des Goldenen Horns, von unserm Standpunkt aus gesehen, beobachteten wir eine den ganzen Hang hinauf sich dehnende Brand- und Trümmerstätte. Mit der hatte es, wie man uns erzählte, folgende Bewandtnis: Unten am Ufer des Goldenen Horns lag an dieser Stelle das Arsenal. Eine heftige Explosion, die bald nach dem Eintritt der Türkei in den Krieg im Arsenal stattfand, setzte die umliegenden, fast durchweg aus Holz gebauten Häuser in Brand, und auf diese Weise wurde ein ganzer Stadtteil in Asche gelegt. An Wiederaufbau hatte man während des Krieges bis dahin offenbar nicht denken können.

Am Abend vor unserer Abreise gaben die türkischen Behörden uns im Hotel Tokatlian ein glänzendes Diner. Am andern Morgen vertraute ich die Besorgung meines Koffers dem Hotelportier an, da ich selbst zu Fuß zum Bahnhof zu wandeln beabsichtigte, um mir den Stadtteil Pera noch etwas näher zu besehen. Unser Hotelportier war übrigens ein unglaublich gewandter Kerl. Armenier von Geburt beherrschte er eine Menge von Sprachen, und jedem Hotelgast, der ihn in seiner Sprache anredete, gab er, ohne sich zu besinnen in der gleichen Sprache Auskunft. Ich habe ihn einmal eine Viertelstunde lang beobachtet und dabei nicht sehen bzw. hören können, dass er, als er während dieser Zeit in nahezu einem Dutzend verschiedener Sprachen von Hotelgästen oder vom Personal angeredet wurde, auch nur einen Augenblick in Verlegenheit gekommen wäre und nicht sofort dem Frager Antwort in dessen Sprache gegeben hätte.

Es blieb mir nach meinem Eintreffen am Bahnhof noch reichlich Zeit bis zum Abgang des Zuges. Ich ging daher in die Bahnhofswirtschaft und bestellte mir ein kleines Gabelfrühstück nebst einer Flasche Münchner Pschorrbräu-Export, das auf einem Plakat zum Verkauf angeboten war. Als diese letztere Bestellung, die in deutscher Sprache erfolgt war, da der bedienende Kellner deutsch sprach, ein am nächsten Tische sitzender deutscher Offizier hörte, kam er zu mir herüber und fragte mich, ob ich ein deutscher Landsmann und wohl gar ein Bayer wäre. Die Bejahung dieser Frage meinerseits richtete große Freude bei ihm an. Er selbst war ein Oberleutnant vom bayerischen Eisenbahnbataillon in München, den sein Kriegsschicksal nach der Türkei verschlagen hatte und dessen Kommando in dieses verbündete Land jetzt abgelaufen war. Wir haben uns dann auf der zweieinhalbtägigen Heimfahrt recht gut miteinander verstanden. In Sofia bekamen wir noch Zuwachs durch einen weiteren bayerischen Offizier, der als Telegrafenspezialist nach Bulgarien kommandiert gewesen war und nun ebenfalls in die Heimat fuhr, um auf einem andern Kriegsschauplatz wieder Verwendung zu finden. Da tres faciunt collegium d. h. drei ein Kollegium bilden, so war unsere bayerische Landsmannschaft in diesem Balkanzug nunmehr mit einem richtigen Kollegium vertreten.

[1] Am heutigen Standort des Münchner Merkur befand sich die München-Augsburger. Eine kurze Geschichte der MAA siehe http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_45012#24

[2] Die Süddeutsche Zeitung sieht sich in der Nachfolge der MNN und führt „Münchner Neueste Nachrichten“ im Untertitel fort.

[3] Überredungskunst, Überredungskünstler

[4] Erlass des Papstes

[5] Gemeint ist kontinuierliches Erscheinen

[6] Woraus sich ergibt, dass CF dieses Kapitel 1949 schrieb

[7] Gemeint ist höchstwahrscheinlich Otto Dietrich

[8] Um Geld betteln

[9] Nieder mit Poincaré!

[10] Dekan, Ältester, hier Chef des …

[11] Möglicherweise ist ein Angriff vom 13. August 1914 oder vom 21. März 1915 gemeint

[12] Siehe auch Schlacht bei St. Quentin 1914

[13] Dies ist eine Beschönigung der deutschen Kriegswirtschaft, deren Ziele die sechs größten Wirtschaftsverbände an den Reichskanzler am 10. März 2015 formulierten, und die eine gnadenlose Ausbeutung der besetzten Gebiet zur Folge hatten (siehe Litpol, das Lesebuch vom Krieg S.85, 3-88279-026-1, 1982). Die Auswirkungen beschreibt recht emotionslos, ja durchaus demütigend, CF selbst auf Seite 23 (bettelnde Kinder, die zum Ruf „Nieder mit Poicaré!“ erpresst werden, um ein paar kleine Münzen zu erhalten). In Polen wurden Lebensmittel für die deutschen Truppen beschlagnahmt.

[14] Man kann das auch anders sehen: Für die französische Bevölkerung, war das die einzige Möglichkeit, überhaupt versorgt zu werden, nachdem ganze Städte und Dörfer vollständig zerstört worden waren, wie CF selbst beschreibt. Die Wortwahl spiegelt die (zynische) Geisteshaltung seiner Zeit.

[15] Die hier beschriebene Schützengrabenidylle dürfte Ergebnis unkritischen, neu-deutsch „embedded Journalism“, geschuldet sein. Umfangreiche Literatur von Zeitzeugen verweist sie in das Reich der Märchen, eine Reise offensichtlich für die Presse inszeniert.

[16] Theodor Reismann-Grone gründete mit Alfred Hugenberg den Alldeutschen Verband. Extremer völkischer Nationalist, Antisemit und bekämpfte die Weimarer Republik. 1933 wurde TR-G erster Nazi-Bürgermeister der Stadt Essen (siehe auch Stefan Frech, Wegbereiter Hitlers? Theodor Reismann-Grone, Ferdinand Schönigh Verlag, 2009, 9783506763655

[17] Leuven, Louvain

[18] Mechelen

[19] Niš, Stadt in Serbien

[20] Morava

[21] Nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 2014 wurde Belgrad zweimal von den Truppen Österreich-Ungarns eingenommen, konnte aber nicht gehalten werden. Am 9. Oktober 1915 fiel Belgrad durch Eingreifen der Truppen des deutschen Kaiserreiches.

[22] Edirne

[23] Bei Lüle Burgas besiegte die bulgarische Armee die Osmanen

[24] Verweist auf den Hitler-Ludendorff Putsch vom 8. November 1923, Ludendorff

[25] Hauptverantwortlicher Kriegsverbrecher, Völkermord an den Armeniern, gegenüber Botschafter Fürst von Hohenlohe behauptet, „La question arménienne n’existe plus“ (Die Armenische Frage existiert nicht mehr).

[26] Heute Üsküdar, Stadtteil von Istanbul

[27] Auf einen Brief, in der der Schreiber seine Abscheu über den Völkermord an den Armeniern zum Ausdruck brachte, antwortete Humann: „Diese werden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“

[28] Enver Pascha wurde 1919 in der Türkei wegen des Völkermordes an den Armeniern zum Tode verurteilt, konnte jedoch nach Deutschland fliehen und erhielt Exil. Einer der bedeutendsten Zeitzeugen ist Armin T. Wegner der den Völkermord in Bild und Wort dokumentierte

[29] In Tarabya

[30] Ein weiteres Schiff das an das osamn. Reich verkauft worden war

[31] Öffentlicher Empfang von Würdenträgern

[32] Neurath war einer der 24 Hauptangeklagten des Nürnberger Prozesses gegen die NS –Kriegsverbrecher.

[33] Veraltet, seinerzeit gebräuchliche deutsche Bezeichnung der Muslime

 

 

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